Reisen

Dienstag, 15. Juni 2010

Chisinau 2 - Parktag

Ich sitze im bezaubernden botanischen Garten, für 33 Cent kann man hier über Wiesen, zwischen kleinen Teichen, durch Wäldchen hin und her, man kann ausruhen, Sport treiben, angeln, flirten, im Gras liegen - zwar habe ich Lehrbeete bis hier zu der Bank am Wasserfall nicht bemerkt, irgendwo wird es die wohl auch geben.

Chisinau ist auch eine Freizeitstadt. Wegen immer weniger Industrie und den vielen Parks hat es eine hervorragende Luft. Auch zwischen den Regierungsgebäuden im Zentrum sind Parks, an der Grenze zum Remmidemmi, sichtbar bewacht von schwarz uniformierten Polizisten, die schon mal einen Bettler entfernen, er muss dann aber laut geworden sein. Auch Großleinwände gibt es jetzt dort, wegen der WM, sogar ein kleines Schwimmbad mit genauen Regeln, in dem man für 50 Lei 45 Minuten seine Bahn ziehen darf. Das ist teuer, auch die Esslokale drumrum nehmen wahrscheinlich mehr, als sich eine Quasverkäuferin draußen auf der Straße leisten kann. Quas ist russisch, eine Art Malzbier, eiskalt sehr erfrischend, angeblich ohne Alkohol, aber ich wurde davon so müde, dass ich vorsichtig geworden bin.

Chisinau ist auch eine Stadt zum Feiern. Auch die Hügel hoch in den Neubauvierteln überall Cafés, Buden, Clubs. Weniger Kinos als Theater, so mein Eindruck. Vielleicht deshalb, weil Theaterspielen billiger ist als internationale Verleihe zu bezahlen. Es sei denn, sie lassen sich auf den Markt hier ein: McDonalds wirbt damit, dass sein Burger 10 Lei kostet, 65 Cent, in der Ukraine kostet er fast das Doppelte. Umgekehrt Busse und Bahnen, hier praktisch doppelt so teuer wie in der Ukraine, nämlich 2 Lei die Fahrt statt 1 Hryfnie, dementsprechend angenehm wenig besetzt sind viele Wagen. Es wird dann wohl mehr gelaufen... (gerade eben war im O-Bus zum Park eine ganz erregte Diskussion, die auf immer mehr Fahrgäste übergriff, weil die Schaffnerin eine alte Bäuerin offenbar umsonst mitfahren ließ. An der Endhaltestelle griff das dann noch auf Fahrer und Schaffnerin über).

Viel Bäuerliches in Chisinau, Kleidung, Gehabe, auch der Protz etwas weniger gekonnt als in Odessa.
Als ich gestern abend im leichten Regen (endlich mal) in ein vom Hotel empfohlenes Restaurant kam, war es kurz vor halb zehn, ich sah gleich, ich war der einzige Gast, aber Musik lief und eine junge Sängerin sang. Ob ich nicht wisse, dass sie alle nur bis zehn Uhr arbeiten, wurde ich auf Englisch gefragt. Nein, wisse ich nicht, ob ich denn noch was zu essen bekäme. Die Frage wurde auf moldawisch weitergereicht, der Unmut in den Gesichtern blieb eine halbe Minute, dann entschied eine junge Frau "da", und alle lächelten mich freundlich an. Ich verzog mich weit nach hinten, was die Sängerin enttäuschte, die schon angefangen hatte, vor mir Pirouetten zu drehen, als noch gar nicht klar war, ob ich denn als Gast hinnehmbar sein würde. Sie sang ihre Lieder, Volksweisen und alte Hits, zu einem Laptop-Playback, das ihr Freund arrangiert hatte, der manchmal für eine zweite Stimme auch zum Mikro griff. Ich aß gut, trank Bier, war Punkt zehn Uhr fertig, zahlte, wurde von allen Seiten ganz freundlich verabschiedet und sah noch im Rausgehen, wie überall in den Räumen die Lichter ausgemacht wurden.

Für mich ist das ländliches Verhalten. In Odessa hätten sie mich abgewiesen oder mir durch eine Sonderbestellung noch was abzuluchsen versucht. Verallgemeinerungen, klar - aber mir ist Puschkin spontan unsympatisch geworden für seine Beschimpfung Chisinaus als "finsteres Loch", während er die Weltgewandtheit der Hafenstadt ( die das natürlich unaufhörlich zitiert) nicht stolz genug rühmen konnte - er durfte schließlich dazugehören.

Zwei Stunden vor dem Essen hab ich, was ein Computerplayback angeht, im Vorbeigehen etwas Seltsames gesehen: In einer Seitenstraße in einem Garten verrostete Panzer, Militärfahrzeuge, Raketen, halb Schrottplatz, halb Museum, mittendrin Stühle aufgebaut, eine kleine Bühne, auf der ein alter Mann saß, vor sich einen Laptop, der mit Standboxen verbunden war, aus denen alte Balladen und - Kampfmusik kam. Der Alte griff zum Mikro und sang dazu. Sein Publikum war so alt wie er. Ich blieb am Zaun stehn, begeistert von dem Mix aus Nostalgie und Modernem. Könnte eine mir nahestehende Person zum Jahreswechsel auch so machen...

Chisinau hat eine Haupstraße, die nach Süden hin sehr bunt und boulevardesk wird, nach Norden zu eher streng mit bewachten Botschaften und Protz. Dazwischen das Regierungsviertel, ein paar klassizistische Bauten, ein kleiner Triumphbogen, das Regierungsgebäude selbst aus den 60ern, wie ein verlängerter Berliner Staatsrat. Hört diese Prunkbebauung auf, setzen stalinistische Bauten wie in der Frankfurter Allee die Magistrale fort. Links und rechts davon beginnen schon verrottete Villen, einstöckige Stadthäuser, ungepflegte Plätze, es ist plötzlich wie in Babelsberg, eh dort die Sanierungswut losging. Solange der Schwung der Hauptstraße in diese Seitenwege noch ausstrahlt, gibt es dort viele romantische Ecken mit Cafes, Bars, Gärten. Endet die Verbindung zur Hauptstraße, wird es ärmlich, ruppig und nachts auch finster. Leute laufen mit Taschenlampen durch die Gegend. Dann zieht man schnell da durch, wenn man noch ein bisschen weiter ins Hotel muss.
Auch der Verkehr ist irgendwie bäuerisch. Man fährt an jedes Hindernis so dicht ran, bis es kein Zurück gibt. Dann muss man hupen. Auch wenn einer nicht sofort bei Grün aufs Gas drückt, vielleicht hilfts.
Einiges erinnert mich an das Athen von vor 35 Jahren. Nein, eigentlich an gar nichts erinnert mich das meiste. Manches ganz rührend: Eine Wand mit Parolen, Wünschen usw. beim Triumphbogen, wo jeder etwas schreiben kann (aber ein Soldat steht Reichweite), und der Wunsch z.b. ausgedrückt wird nach Einheit von Besarabien und Rumänien oder auch jemand schrieb "ich liebe Moldau". Oder eine Folge von Stelltafeln vor der technischen Uni, was man dort alles werden kann.
Universitatea tehnika à Moldovei.

Ich weiß ja leider noch fast gar nichts von hier. Was heißt leider? Deshalb kann es mir noch gefallen?
Weiß noch nicht mal, wann dieser botanische Garten zumacht. Keiner mehr zu sehen plötzlich, nur ein Haufen Enten. Es ist halb acht...

Chisinau 1

Es gibt so vieles aus Odessa nachzutragen, aber Chisinau, wo ich heute hingekommen bin, ist wieder ganz was anderes.
Hauptstadt Moldaviens, Republik Moldau, Moldova oder, wie ich heute auf einem mehrsprachigen Schild las, auch Moldachei genannt. Eigentlich nur knapp 150 km von Odessa weg, aber man muss einen doppelt so langen Umweg fahren, weil zwischen beiden Städten das sich unabhängig verhaltende von zwei Familien regierte autonome Gebiet Transnistrien sich einschiebt, aus irgendwelchen Gründen von Russland gestützt (so wie der Kosovo von den EU-Menschenrechtlern, ein Wunder eigentlich, dass sich bei den deutschen Grünen keine Untergruppe 'Freiheit für Transnistrien' findet, Waffenhandel und mafiöse Volksbehandlung sollten doch für das simpel gestrickte Mitglied leichter verkraftbar sein als Organhandel mit den ausgeschlachteten Feinden).
Also auch Russland hat seine humanitäre Schnurre, im Fall Transnistrien wirkt das so, dass das Mafiastäätchen gern einmal Ausländer kapert, ihnen alle möglichen Durchreisepapiere verkauft und sie dann im Schatten der russischen Schutzsoldaten aufs Gebiet der Republik Moldau entlässt. Wo sie sich ab da unangemeldet und also strafbar aufhalten (was natürlich nichts weiter als die aggressive Lesart der serbischen Aggressoren ist - um die Parallele noch einmal zu strapazieren).
Noch konkreter: Nachdem ich längst mein Ticket für den 6-Stunden-Bus Odessa-Chisinau hatte, pulverte heut früh am Busbahnhof ein lauter, witziger, mir sehr unangenehmer Taxifahrer auf mich ein, ich wolle doch wohl nach Moldavien, dahin fahre er auch, aber zwei Stunden nach Chisinau, keine sechs wie der blöde Bus, und fürs gleiche Geld, da wäre man doch bescheuert, wenn man nicht einschlägt, nicht mit ihm mitfährt. Also dafür sorgen, dass ich mein Ticket zurückkrieg, das würde er auch, ich solle es ihm doch überhaupt erstmal zeigen, das würd ich mich ja wohl wenigstens trauen....
Ich schüttelte immer nur den Kopf und ging irgendwann. Später hörte ich ihn Tiraspol ausrufen, also die Hauptstadt von Transnistrien, und eine nordeuropäisch aussehende Reisende befand sich in seinem Schlepptau. Sie tat mir leid, aber ich saß schon in meinem Bus.
Ich gebe zu, ich hatte Angst genug vor mehreren Kontrollpunkten, an denen von allen Mitreisenden ernst geschwiegen wurde, vom Fahrer vorneweg, der mir auch schon genau so ernst schweigend 15 Hryvnien für mein Gepäck abverlangt hatte, keiner muckst sich, wenn die Zöllner zusteigen, aber allen anderen hätte gleich es sein können, was mich eine halbe Stunde lang panisch machte: Sie würden doch vielleicht den kürzeren Weg wählen, der eine Fremde hätte dann eben Pech gehabt, EU-Bürger, der sowieso genug Vorteile einheimst - was war ich froh, als dann in Stein gehauen am Dach des Grenzübergangs stand: Moldova.

Ärmstes Land im EU-Umfeld. Riesige Kuhherden weiden bzw. lagern sich schlapp ab in der Hitze der Flussauen. Weinabau, Pferdekarren, freilaufende Hunde. Straßen so schlecht wie in der Westukraine - während man um Odessa herum richtig flitzen kann (mehr kenn ich ja nicht).
Die Großstadt kündigt sich lange vorher durch ein monströses Rohrsystem an, ähnlich wie in den Ostberliner Plattensiedlungen, aber viel breitere Rohre und alle zerbröselt. Und manchmal gar keine zugehörigen Wohnblocks, nur Rohr und Straße und vielleicht noch ein Abflussgraben. Dann ein See, in dem sogar Leute baden (es ist so heiß, da badet man überall). Neue Siedlungen, prekäre Bausubstanz bis hoch in den 18. Stock, wo noch Wäsche hängt, das hätte man bei uns nicht geduldet. Mitfahrende raffen ihr Zeugs zusammen, eine krakeelt so lange, bis sie rausgelassen wird. Ich bete dann immer: fahr weiter, fahr doch bis in die Mitte von dieser hässlichen Stadt, ich will mich hier draußen nicht durchboxen müssen. In solchen Monenten ist mir noch jede Stadt hässlich vorgekommen.

Samstag, 12. Juni 2010

Überm Meer

Nach Jahren mal wieder: überm Meer, Wasserskirasende vor mir, wegspritzende Schwimmer, tiefbraun Ausdauernde und die Faustballspieler barfuß im Sand, hinter mir der Musikbrei, der an allen bevölkerten Stränden der Welt animiert, "say you want, say you need", man hört die Musik sofort dazu, es ist weit außerhalb, schemenhaft sieht man am anderen Ende der Bucht Hochhausdunst. Odessa ist richtig groß, war nicht nur der südlichste, auch der größte Hafen der Sowietunion.

Vom Hafen aus gelaufen, erst durch Verwaltungstrakte, dann verspielte Parks, Wohnblocks, durch ein Volksparktor, und von sozialistischer Ordnung mit begrenzten Ausblickbänken aufs Hafengelände ging es auf immer breiterem Weg mit immer mehr Flaneuren auf eine Strandpartie zu, wo kein Halten ist, Buden auf Buden, Grill und Tätowierung, Delfinarium und Muskelkunstwerker, Ponyreiten und Disko natürlich und Karaoke, und Fisch Fisch Fisch. Sogar Sushi. Das Wasser, so nah am Hafen, echt schmutzig, wenn man genauer hinschaut.
Ich nahm ein Elektromobil von dort. Zum Strand 'Arkadien', dachte, das liegt nebenan und war etwas pikiert vom Preis, 25 Hryfnien, 2,70 € jetzt (im Februar wärens 2,30 gewesen). Als der Stecker des Fahrzeugs aus der Dose gezogen wurde, kriegte jeder von uns eine Orangade in der Tüte gratis, daran sah ich schon, es würde eine lange Fahrt sein - zwanzig Minuten bergauf, bergab, an Skatern vorbei und Joggern, durch Schranken, die sich mit Zauberhand öffneten, an Badeplätzen und Lokalen,wo ich gern ausgestiegen wäre, aber Arkadien war noch weiter. Als kurz vorher eine Oma mit Enkel aus - und zwei 12jährige Mädels einstiegen, die immerzu den Refrain eines eben gehörten Schlagers nachsangen, hoch, tief, schräg, richtig, aber andauernd, da war klar, Arkadien ist für jeden was anderes. Während am Einstiegsstrand ein Abenteuerrummel aus vergangener Zeit zerstört am Wegrand liegt, durch einen Zaun abgetrennt, aber sichtbar (die halb verbrannte Geisterschiff-Wippe), romantisch sichtbar, funktioniert hier in Arkadien alles. Hochelektronisch ferngesteuerte Geisterwelt. Ein Wachsfigurenkabinett. Nightclubs. Eine Bühne mit hochamtlicher PA und Lichtversorgung. Hotels. Diskos. Ich wette, eine Kirche gibt's auch. Bin an die höchste Stelle geflüchtet, esse zum offensichtlichen Ärger des Chefkellners nur einen kleinen Gemüsesalat. Er gibt den Ärger in Form einer Rechnung, die in einer Art Riesenkübel versteckt wird, an eine Untergebene weiter. In vielen Lokalen hier steht ein Schwarm von Dienstleistenden herausgeputzt in Schlange oder Klüngel bereit, den Kunden zu bedienen bzw. Arbeit zu delegieren. Die Ware Arbeitskraft ist hier billig. Das Geld auf meine Rechnung nimmt eine Kellnerin entgegen, die den Riesenkübel am Ende wieder dem Chefkellner reicht. Jetzt muss das Restgeld zurück, dazu schickt er wieder eine andere los. Der lege ich wie nebenbei einen kleinen Schein beiseite, sie schaut mich an und traut sich nicht, das Trinkgeld zu nehmen. Schon ist der Chefkellner wieder da, wittert herum und nervt mich damit so, dass ich einfach gehe.

Ich war angekommen und gleich ein bisschen genervt von Odessa. Deshalb am Strand gelandet. Eine sofort begeisternde Stadt, das ja, aber künstlich, malerisch überall, komponiert, die Schachspieler in den Parks gehören dazu wie die halbnackten Damen an den Militärfahrzeugen der Reichen, die Sonnenbader (jetzt in der Gluthitze eher: Sonnenflüchtlinge, Schattenbader), alten Geschäftsleute, wunderlichen Bettlerinnen - alles im Verdacht einer Inszenierung.
Zum Beispiel gibt es nirgends Tourismusbüros, die Stadtführungen anbieten, Rundfahrten (erst am 3. Tag hab ich so was doch noch entdeckt): Man ist drin, und jetzt muss man in dem Theaterstück eben zurechtkommen. Das natürlich auch Mängel hat: Ursprünglich sollte man ja die Stadt Odessa vom Hafen aus betreten, deshalb die Treppe, man stieg sie in das künstliche neue Paradies der Grafen Potomkin und Richelieu empor - auch nach Arkadien also. Heute kommen aber fast alle vom Bahnhof oder Flughafen, also von oben, arbeiten sich vor bis zu den Palästen hoch überm Meer, schauen an der Treppe runter - und auf ein riesiges Allerweltsluxushotel im Hafen, das direkt den Blick in die Ferne versperrt (500 Dollar die Nacht lässt mich später eine Einheimische wissen). Das hätte nicht sein sollen, das unterbricht das Schauspiel!
Ich bin ja dankbar für solche Fehler. Freue mich an rostigen Schiffen bei der Hafenrundfahrt später genauso wie an den springenden Delphinen, die wie aufs Stichwort um unser Boot hüpfen. Die einzigen in Bewegung an diesen heißen Tagen, so scheints.
Ob die Ruhe in dieser Stadt, von aggressiven Kampfautofahrern und betrunkenen Nachtbummlern abgesehen, eher am Wetter oder der Mentalität liegt? Im (etwas russisch-neureichen) Hotel Odesski Dvorik, wo ich abgestiegen bin, schlägt das Abgehangene im Umgang mit dem Gast sich eher in Schlechtgelauntheit nieder, die hier vielleicht weltmännisch wirken soll - auf einem vier Straßenblocks großen Trödelmarkt, auf dem ich heute Mittag war, wirkt diese Ruhe wie weise. In Berlin nicht, noch weniger in Athen oder Istanbul würden knapp tausend Menschen, die verkaufen wollen, so still vor dem Mitgebrachten hocken, Kleidung, Werkzeug, Tiere, Blumensamen, manche nur einzelne Kacheln oder Würzelchen aus dem Hausgarten dabei, andere Berge von irgendwo herbeiorganisiertem Zeugs. Man spart sich einfach den Lärm. Man ist ja sowieso da. Großartig. Beneidenswert. Ob man das lernen kann?
Jedenfalls habe ich hier seitdem Hemd und Hose für 3,50.

Freitag, 11. Juni 2010

Splitter Odessa 1

Der erste Mann mit Kippa auf dieser Reise.
Tag später noch einer, ich geh ihm nach, wohnt tatsächlich im alten Judenviertel. Lese, die Hauptsynagoge ist seit den 90ern wieder in Gebrauch.

"Nobody has right to judge me only God" hat ein junger Mann am Strand auf den Rücken tätowiert. Also auf lange Sicht: Keiner.

Bettler, die singen, laut, klar und à capella. Einer schob sich gestern nach einer kleinen Vorrede singend durch einen überfüllten Bus, ich konnte ihn von meinem Sitz aus nicht mal sehen. Wer kann ihm was zugesteckt haben?

Auf der Fahrt zum Bahnhof Lemberg Indiz, dass die klapprige Straßenbahn aus Deutschland dort hin kam. "Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen" steht verblichen zwischen neueren kyrillischen Aufklebern. Weitere Recherche lässt vermuten: Aus Westdeutschland. "...erke Iserlohn" lappt unter frischeren Aufschriften beim Fahrersitz. Stadtwerke? Lasse die Nachforschung, es ist missverständlich, wenn ich mich über den Fahrer fast rüberbeuge.

Fahrt vom Strand weg, wo eine Kopftuchalte den Fahrkartenverkauf übernahm mit einer so unangenehmen Stimme, so herrisch-dawei-dawei-zusammenschiebend, dass jeder sich kugelig klein machte, demütig von vornherein schon; an einem Umsteigepunkt, wo eine Mutter sich offensichtlich weigerte, von der Tür weg ins Wageninnere zu treten, riss sie einfach deren kleine Kinder mit sich fort, die Mutter stolperte fassunglos hinterher. Ich musste an Stalins Vertreibungspolitik senken.

Auf dem Pryvozmarkt - neben unzählig anderem - zwei Fischhallen. Eine unter Rohbaudach ohne Außenwände und Verglasung, hunderte Stände mit Fisch vom winzigen Garnelchen bis zu Riesenflunder, Hai und Schwertfisch, alles in Haufen mit Frauen davor, die rauchen und mechanisch mit Blätterwedeln die Fliegen verscheuchen, was natürlich aussichtslos ist. Stundenlang. Hier laufen auch hunderte Kunden herum, trotzdem hab ich den Eindruck, es wird eher spärlich gekauft.
Daneben der andere Markt im festen Haus: Klare Stände, abgegrenzt und mit Strom versorgt, hier liegt die gleiche Vielfalt von Fisch in weniger Menge auf Eis, wird mit Handschuhn bedient, gibt es alle paar Meter Karren mit frischem Wasser und Heißgetränke. Die Preise sind mehr als doppelt so hoch, die Kundschaft viel spärlicher. Aber wer hier hergeht, der kauft, glaube ich.

Noch nirgends hab ich so viele Off-Roader gesehn wie in Odessa. Und selten so viele Bettler bzw. Anbieter von irgendwas. Ich bin ja nicht so viel rumgekommen. Es fällt auch nicht so auf, weil hier alle darauf achten, dass sie einigermaßen sauber gekleidet sind, irgendwie europäisch geschniegelt, egal, wie's ihnen geht. Nur die Reichen zeigen sich ungern: Ein Superschlitten muss so tief getönt sein im Glas, dass man nichts drinnen sieht, kein Stäubchen. Damit es siffiger sein darf als im Zimmer des Bettlers?

An der Potomkinschen Treppe bietet mir ein Verkäufer erst Postkarten, dann Kaviar ("20 €" - "No" - "10?" - "No" - "5!" - "-" - "Fuck you") an, dann so schlecht gefälschte Euroscheine, die ich irgendwie einwechseln soll, dass ich laut auflachen muss.

Nein, Hytapiyc heißt nicht Kramladen, sondern Notarius, wie ich endlich begriffen habe; genauso, wie ich mich nicht mehr wundere, dass es in Warschau, Lemberg, Odessa so viele Rektorate geben soll, auch ganz kleine, für welchen Fachbereich denn? Es hat gedauert, bis ich da einfach reinging und was zu essen bestellte, als ich Hunger hatte.

Immer blöd, wenn man Sitten nicht kennt, zu Fasching ohne Verkleidung, zum Polterabend ohne was zum Zerdeppern kommt. Ins Schlafwagenabteil bringen die Ukrainer flauschige Trainingsanzüge bzw. Topps mit, sie stehen erst zwei Stunden am Fenster oder essen platzgreifend im Abteil, dann erst zieht man sich um, einer nach dem andern, klappt die Betten runter, bezieht im Handumdrehn die schmale Pritsche, dreht sich zur Wand - und schläft noch lange nicht. Erst wird noch telefoniert. Dann wird der Zug wohl grad halten, klagend wird eine Ansagerin einen langen Sermon verlesen, woher, wohin, wozu und warum nicht (es klingt jedesmal wie die gleiche Stimme, vielleicht die ukrainische station-voice im Wortsinn). Als sich unser Zug schließlich in die Nacht schob, Kühle kam, sah ich ein kleines Bauernhaus mit Bank davor langsam vorbeiziehn (wir fuhren für 780 km 12 Stunden) und dachte: Warum bist du Idiot jetzt nicht in Lunow?
Irgenwann nachts wurde ich wach davon, dass die Klagestimme von Marschmusik abgelöst wurde nach jeder Ansage. Treibende slawische Marschmusik. Das machte alles ganz festlich. Wüsste den Bahnhof gern.

Donnerstag, 10. Juni 2010

Ankunft Odessa

Der prächtige Bahnhof, zum Hafen hin Alleen unter schattigen
Laubbäumen. Gleich von Anfang an zweistöckige, sparsam verzierte leicht wirkende Häuser mit Schmucksimsen über den Fenstern. Ich zerre mein Zeugs verschwitzt, aber flott über die Holper des Pflasters. Der erste offene Laden mit Tisch draußen ist eine Confiserie, also nur Gebäck. Bald verspeise ich zu Café amerikain ein Stück wunderbaren warmen Apfelkuchen. Neben mir braust der Verkehr. Ein Pärchen hält in der Schlange, er schaut gelangweilt durch mich durch, sie grinst, sagt was, er nickt gelangweilt. Sie lächelt. Ich lächle zurück, sie jetzt mit einem Ausdruck wie: Genieß es nur. Wir winken uns zu. Er gibt Gas.
8 Uhr 30, die Stadt lebt los.

Ich brauche ziemlich lange, bis ich im zweiten Café die kyrillische Inschrift an einem wunderschönen, auch wunderschön restaurierten vierstöckigen Jugendstilhaus entziffere: M.G.Grünberg
Hier übrigens eine Gruppe junger Leute, die mit in Karaffen
angeliefertem Alk schon jetzt zu lauter Form auflaufen. Könnte bald unangenehm sein.

Mittwoch, 9. Juni 2010

Lviv von Nacht zu Nacht

Trommelfeuer im Park, ein Trupp Feuerschlucker probt und sammelt, und am Bierausschank treffen sanft Betrunkene mit akademischen Disputanten, deutschen Montageingenieuren und italienischen Ladies zusammen. Man hört mehr fremde Sprachen als im Winter, man hört überhaupt viel mehr. Gibt mehr Geschubbse, Verkehrsgerangel, und das Restaurant im Hotel wird abends nur noch fürs Internet benutzt, man will draußen sein. Der Abend hier ist eine lange Fahrt.

Man darf nichts für etwas anderes machen: nicht reisen, um Lieder zu schreiben, nicht in die Ferne schauen, um Sehnsucht zu spüren, nicht trinken, um zu vergessen.
Ich denke das ganz entschlossen, als ich wieder den Berg hochsteige. Nach dem langen ergiebigen Gespräch mit Gabriela und Uwe, die in Werchowyna waren auf Suche nach Erinnerungen an den polnischen Großvater, aufgerührt kommen sie wieder, eigentlich unfassbar, was es an Hass, Aufgestautem gegeben hat in der Besatzungszeit, einer der etlichen Besatzungszeiten hier, eigentlich unfassbar, dass es so friedlich jetzt zugeht hier, denke ich. Immer mal wieder, während wir uns zwischen den alten Mauern unterhalten, taucht ein Bekannter von Uwe auf, hochgeschätzter Übersetzer und Essayist, der grad "Hiob" von
Joseph Roth auf ukrainisch veröffentlicht und mich vor allem damit beeindruckt, dass er sich unsere Vornamen sofort gemerkt hat und bei jeder seiner Stippvisiten ab jetzt hersagt: Gabriela, Uwe, Manfred. Die Stippvisiten enden immer sofort wieder, erstmit dem Treff eines anderen Übersetzers, mit dem er sich kurz zurückzieht, dann mit dem Einzug einer Gruppe von kanadischen Architekten, denen er die Stadt erklären soll, und als die wegsind, kommt er nochmal, um zu sagen, jetzt müsse er aber dringend los, "Uwe, Manfred, Gabriela". Ich werde das nie vergessen - nur den Namen, da bin ich einfach schwach drin,
hab ich mir nicht gemerkt.
Gabriela und Uwe haben auf ihrer Fahrt mehrere getroffen, so erzählen sie, die sich hier einen Krieg her - und die Deutschen
zurückwünschen, die endlich Ordnung bringen würden, wie schon mal. Ich kann's nicht fassen. Glauben tu ich's. Vielleicht sagt mir sowas nur keiner.
Nach dem herzlichen Abschied spricht mich ein nervöser, sympatischer junger Mann in bestem Deutsch an, bietet eine Stadtführung für 7€ die Stunde an. Mein Ruhebedürfnis ist stärker. Ich bedaure es bald, immer wieder auch unflexibel.
Junge blonde Amerikanerin im Kreis von Ukrainern am Biertisch (zu ihrer Freundin): "it's gorgeous, somewhat."

Jetzt im Sommer kann auf dem Balkon gefrùhstückt werden, damit wird das morgendliche Bufett im Dnister fast makellos, denn man kann auch der Dauerberieselung mit Jammerpopmusik jetzt gut ausweichen, stattdessen draußen den Gesprächen lauschen, hinterm Ohr, am Tisch voraus, wo zwei einander zugebeugte alte Männer Ei mit Majo, zwei Würstchen, Espresso und Wodka verzehren und verschwörerisch leises Russisch reden. Während hinterm Ohr mit lautem Bariton ein Ami sich gegen "charges" wehrt, "they ain't in the contract", und "yes", er habe das Dorf gesehen, die Schule auch, wo der Brunnen gebaut werden solle, "up on the hill", er habe auch die Kinder gesehen und habe verstanden, "I can see their point, you know", aber ohne Gebühren, wenn wir ihnen schon so entgegenkommen, "no charges" - und etwas in seiner Stimme lässt mich an Dick Cheney denken, den man angeschwollen von Reichtümern, für deren Erwerb Zehntausende sterben mussten, aus dem Amt getragen hat (so pathetisch wird sein Nacheiferer Westerwelle nicht abtreten dürfen), viel mehr aber (und gleichzeitig, bei den gleichen Worten im gleichen ruhig-bestimmten Ton) an James Cagney, wenn er einen Voranbringer spielte, den risikofreudigen Kaufmann,
Bürokratieüberspringer, einen liebenswerten Chaoten, der genau das Richtige tut, indem er Menschen nur hilft, wo es auch ganz zu seinem eigenen Vorteil ist. Den Unternehmer. Der wie Wasser die kürzeste Bahn auf dem Weg voran sucht und findet.
Es ist die gute amerikanische Stimme, aus meiner Kindheit ("Time is Money", ein Satz auf einer Werbearmbanduhr der PanAm von 1962, der meine Eltern kurz antiamerikanisch werden ließ und mich hochmodern), und hier am Frühstückstisch, von hinter'm Ohr, glaub ich ihr immer noch gerne und hoffe, wer so spricht, dem geht der Schwung zum Unternehmen nie verloren (und das Geld zum Investieren trotz der Räuberbanken nie aus). Und eins wird der nie vollbringen: Grausamkeiten aus Hass.

Montag, 7. Juni 2010

Nach Lemberg

Leichter warmer Regen in Eichkamp, wo mich Max aus dem Auto lässt, in Spandau ist er wieder vorbei. Sommer, das Sonnenzeichen in den Wettervorhersagen hier und dort, wo ich hinfliege. Dazwischen die Bilder von Fluten, die sich durch Ortschaften wälzen und alles mitreißen, was sich nicht halten kann. Dazwischen, da unten, drüber weg.

Der Zug nach Dortmund ist unverschämt voll, selbst in der 1. Klasse hab ich Mühe, einen Platz zu finden. "Montag früh, logisch", sagt die Schaffnerin. Ich verschlinge ein Rührei, es quasi auf den Knien balancierend, während die Mitreisende neben mir telefonisch die wöchentliche Büroorgamisation einer Krankenhaus - oder Krankenkassenabteilung anweist, manchmal streng, dann wieder fröhlich glucksend.
Schon in Wolfsburg leert sich der Zug. Ist VW der Arbeitgeber vieler Berliner Mittelständler, die 1. Klasse fahren? Jetzt kann ich mich ausstrecken. Mich ganz der seltsamen Bewegung hingeben, dass ich nach Westen fahre, weil ich nach Osten will. Muss mir nur manchmal sagen, dass ich nichts vergessen habe, dann kann es losgehn. Noch fahre ich so wie zum nächsten Auftritt.
In Hamm ist es kalt und wolkig. Ein Bahnhofsvorplatz mit bunten trabenden Elefanten, dahinter ein türkisches Eiscafé, wo Vater und Sohn sich an lässiger Eleganz beim Bedienen überbieten und ich ihnen mit zugeknöpfter Reisejacke, Koffer und Umhängetasche nacheifere. Kurz eh ich weiter muss, kommt tatsächlich die Sonne.
Ich meide den Bahnhof Dortmund, nehme von Hamm den Bummelzug nach Holzwickede, von wo ein Shuttle für 1,50 zum Flughafen und zurück fährt, "solang geflogen wird", erklärt der Fahrer, "zur Not auch nach Mitternacht."

Was ich nicht wusste: Dortmunds Billiggesellschaften-Flughafen liegt auf einer Hochfläche, man kann auf die Terrasse im zweiten Stock treten und hat einen Blick auf die Zechenlandschaft des Ruhrpotts bis Essen in der Ferne.
Es stürmt. Alle 10 Minuten fährt eine kleine Maschine zur Startbahn vor, blinkt lustig mit den Lichtern, nimmt ordentlich Tempo auf und klettert hoch in die Wolken. Air Berlin, Easy Jet, wizzair, solche Sorten.
Ich hätte nichts dagegen, wenn es in Finowfurt so einen Kleinflughafen gäbe statt der Riesenzentrale in Schönefeld. Ich hatte auch nichts gegen Tempelhof. Ich weiß, dass es Luxus ist, so abgelegen und still zum Fliegen pfänden zu werden. Luxus der Billigflieger, verkehrte Welt.
Ein Elternpaar, dessen 13jährige Tochter zum ersten Mal allein fliegt, steht am Zaun, und ein Großelternpaar mit den kleinen Enkeln, die nicht traurig sein wollen, dass Mama und Papa jetzt fort sind - dafür ist gerade zu viel los -, aber auch über den Abstoß der Maschine in die Luft nicht so staunen, wie die Erwachsenen sich das vorgestellt haben - dazu ist Fliegen hier vielleicht zu leise, wenn man beschirmt auf einer Terrasse steht.

Es geht auch in mir jetzt ruhig zu. Ich hab soviel Zeit. Leider kostet WLAN hier was, das hat dann St.Petersburg diesem Flughügel voraus, aber vielleicht wollen sie hier gar nicht weltläufig sein, nur praktisch und billig. Solange es nicht verboten wird.
Draußen stürmt es. Ich warte. Ich lerne das zu genießen. Einen Moment glaube ich, es so genießen zu können, dass ich den Flug verpassen werde. Dann schau ich mich nach dem Ober zum Zahlen um.
Später beginnt das Spiel in der Schlange. Ich stehe zufällig ganz nah beim Schalter etwa eine Stunde vor Öffnung, und weil sich gleich noch eine deutsche und eine ukrainische Großfamilie dazugesellen, bilden wir den Anfang der Schalterschlange. Ab jetzt geh ich da nicht mehr weg - den guten Platz aufgeben? Wellen der Heiterkeit und der Panik fahren durch und Wartende: Müssen nicht Passagiere, die nach dem 15.April gebucht haben, weniger Gepäckgewicht anbringen, ohne zuzuzahlen? Und zahlt man am Schalter nicht 60 € pro Kilo? Nützt es, jetzt im Reisebüro von wizzair auf Gutglück einen Gewichtszusatz zu buchen für 15 €? Einige rennen dorthin, andere wiegen ihr Gepäck verstohlen am Nachbarschalter, sie alle geben die guten Plätze auf.
Ich bleibe standhaft. Aber so stehe ich eben auch ein Stündchen. Um dann zu erfahren, dass im Flugzeug freie Platzwahl ist. Die Ersten werden die Letzten sein. Ich sage mir das, bevor ich im Wartesaal einschlafe, hochschrecke, als das Aufbruchssignal endlich kommt, resigniert den Pulk an mir vorbeiziehen lasse, der sich inzwischen gebildet hat, weit hinten aufs Rollfeld gehe, es ist warm geworden, leichtwolkig, mir sage: Liest du eben, statt rauszuschaun, plötzlich sehe, wie vier kecke Burschen einfach zur Hintertreppe des Flugzeugs laufen, mich ihnen anschließe, wir werden nicht weggeschickt - und hier bin ich, am Fenster in einem fast ausgebuchten Flieger!

Es geht über Nürnberg nach Tschechien, wir fliegen bei Spaethes übers Dach, ich glaub, ich seh den Burgturm von Königstein. Später, im Kopfhörer läuft grad 'Things have changed', ein Haufen dunkler Wolken, Riesenknäuel, das fast an uns ranreicht, das muss das Überschwemmungsland sein, Regengusswochen von oben, sie scheinen da festzustehen. "Lot of Water under the bridge, lot of other stuff, too".

Der Hochsommer, der sich ab der ukrainischen Grenze in klarer Sicht nach unten angedeutet hat, ist noch abends 30 Grad warm. Eh man in ihn raus darf, muss man winzige Einreisezettelchen ausfüllen, sich fragen, ob Surname jetzt Vor - oder Nachname heißt, und warten. Als ich dann am Schalter stehe, muss der Grenzer über mein 'Hier' so lachen, dass er seinen Kollegen damit ansteckt, sie wiederholen es dauernd und kichern, eine junge Ukrainerin am Nachbarschalter lacht auch, alle drei schauen mich einladend an, bis ich mitlache - keine Ahnung, was ich da grad gesagt hab...
Jacke aus, zum O-Bus Richtung Uni, ich kenn mich aus, mir macht keiner was vor, durch den jetzt von Musik durchfluteten, von Pärchen bewohnten Park, den ich noch vereist in Erinnerung habe, hoch zum Hotel, der gleiche wunderbare Blick, von den grünen Kronen einiger Laubbäume jetzt aufs Nähere gelenkt, ein Anruf zuhaus, kurzes Geplänkel mit einer Geschäftsfrau, die einen Tisch weiter telefoniert und klingt, als müsse sie eigentlich die Büroorganisation einer Krankenkassenabteilung meistern (ich frage sie danach, sie versteht mich nicht, und mir fällt ein, dass es in der Ukraine eine Pflicht zur Krankenversicherung ja nicht mehr gibt, Traum mancher regierender Raubritter bei uns), aber dann raus in die Wärme.
Wie am Mittelmeer ist es. Und langsam, ganz langsam find ich mich wieder drein, unterwegs zu sein. Diese schöne Stadt jemand zeigen, Raoulina, das wär's heut.

Freitag, 26. März 2010

Lviv zurück

Manchmal geh ich irgendwo zweimal hin. Wenn mir jemand sympathisch war. Wenn mir was Rätsel aufgibt. Heut nicht, ich probiere am letzten Abend ein fremdes Café in der Altstadt. Sie waren etwas überrascht, dass ich essen wollte. Aber überall sind die Speisekarten reichhaltig, und dass ein Lokal sich Kafe nennt, hat eher konzessionelle Gründe. Leider ist der Salat mit Rinderherz aus. Aber Zunge auf Käsescheibchen, Kohl und Majonnaise ist zu kriegen, aparte Vorspeise. Gute Einleitung, aber zu nichts Größerem hin, denn abschließend will ich nur ein Tellerchen Leber mit Zwiebeln. Leichtes Kopfschütteln, als Alleinreisender neigt man ja dazu, jede Regung der andern auf sich zu beziehen. Aber irgendwann weiß man es, redet es sich aus und kommt schließlich dazu, auf nichts mehr zu achten. Dann lacht man den Handtaschenräuber freundlich an: Ja, nette Idee, aber dich hab ich mir grad  nur ausgedacht, weiß ich, blöd von mir... 
Hier sitzen keine Fremden. Man merkt es an der Ruhe. Ukrainer sind streckenweise sehr ruhig. Wenig Streit und Hektik, und wenn, dann dreht eine Person auf, was die andern dazu bringt, nur noch stiller zu werden.
Was nicht heißt, das Harmonie herrscht, eher Abgrenzung. Nicht erstaunlich bei der Enge, in den Verkehrsmitteln, den Wohnungen, auf den Stadtstraßen.

Die Fahrt von Cernivci hierher, auf der ich ganz vorn saß, ein idealer Platz, solang sich nicht ein verbitterter angetrunkener Alter neben mich gesetzt hatte mit zwei prallvollen Plastiktüten Obst (obwohl hinter mir jede Menge Platz gewesen wàre), der dann die ganze Zeit drängelte, mit dem Fuß, dem Ellenbogen, irgendwas lallte, wichtigtuerisch von mir verlangte, dem Fahrer mein Ticket zu zeigen (weil er seins zeigen sollte) - es wurde erst wieder schön, als der Suffki aufgab, sich hinter mich setzte (wobei einige seiner Äpfel ins Rollen kamen, Pech). Achteinhalb Stunden für 290 km, ideal? Man wird bescheiden.

Fahrt durch ein leuchtendes Frühlingsland. Der erste Storch gegen 10 bei Kolumya.  Weitere folgen - der Sommer fàllt nicht aus!
Die Äcker werden gereinigt, es raucht, die Feuer kommen manchmal bis an den Straßenrand. Toll würziger Geruch. 
 
Mit einem Pferdefuhrwerk auf's Feld. Stiefel bis an die Knie, Kappe auf, Zügel in der Hand, ein kleines Holzbrett über dem Mist, der gefahren wird. Die Frau weiß er hinter sich, sie schaut rückwärts ins Gelände.  

Auch hier vor jedem größeren Ort ein Kreisverkehr. Die Vorfahrtsregel ist anders, im Kreis muss man warten. Es kommt mir unbeholfen vor, aber ich will mich nicht einmischen. Manchmal stehen geborstene Autoreste auf Rampen hochgehievt wie Denkmäler an den Ausfahrten.

Die Knospen an den Pflanzen sind nur zu ahnen.

Dann etwas Aufregung wegen des möglicherweise fehlgebuchten Zimmers, und die große Freude, eins im 8., obersten Stock zu beziehen mit dem prächtigen Blick.  Was kann schöner sein als eine langsam dunkler werdende Stadt von oben, Musik dazu, etwas Süßes?

Nach zwei Wochen abends die gleichen Straßen hoch, damals verschneit und glatt, jetzt getaut, und Sommer liegt in der Luft. Das kann ja morgen schon wieder rückgedreht sein, aber die Störche sind schon mal da.

Auf dem Friedhof Lemberg: Gräberlandschaft. Verschiedene Zeiten und Völker. Wie deutsche Namen ins Polnische übergehen : "Jozef Andrzej Flechner, 12.3.1850, 7.9.1913 - Emilia Flechnerowa, 1857, 8.1.1921"

Im Park des Museums für Volksarchirektur halten alte Frauen
die nachgebauten Bauernkaten in Ordung in der standesgemäßen Kleidung der Zeit. Aber um 17 Uhr ziehn sie sich Mäntel über und gehn telefonierend zur Straßenbahn.

Lese vom Bildhauer Matvej Genrichovič Manizer, der überall im Land Lenin- und Ševčenko-Statuen schuf -: Ein beruflich glücklicher Mann, denn in der Westukraine wurden die Lenindenkmäler nach 91 durch ähnlich viele Ševčenko-Statuen ersetzt.

In der Strassenbahn vorn, Fahrerblick: auf diesen Gleisen gilt das Eich-Wort von den windschiefen Geraden.

Zweimal Musik: Ein Geigerpärchen im Park, Bach und was Romantisches, was beides mit dem Glanzwetter gut zusammenstimmte, dann eine Bluesband, euphorisch gefeiert, da war es mehr der Schwung. Es tut immer gut, dabei zu sein, wenn Musik gespielt wird.

Im Frühstückssaal eben eine schicke, ketten - und handybehängte Frau, im Tross einer Geschäfts - oder Bandclique, die hier grad einströmt, hat sich ihren Teller voll geholt, nimmt Platz, und eh sie etwas isst, bekreuzigt sie sich schnell zweimal, unauffällig, und küsst ein Medaillon, das sie um den Hals trägt. Wer nicht zufällig genau hinschaut, sieht nichts. 
 

Donnerstag, 25. März 2010

Cernivci 2

Mittwoch mittags in Lviv, ein Kunstcafé, das mir Uwe von Seltmann empfohlen hat, smoother Pianojazz am Ende einer Gasse, Waldtee mit Honig, draußen im Schatten, denn schon ist es wieder möglich und zum Schreiben praktischer als in der Sonne, einen vollen Tag ist sie bereits da. Hat den Eintageherbst in Cernivci gut überstanden. Lemberg doch näher an unserm Leben, denke ich, was Andreas vor anderthalb Jahren in Lublin fand: so westlich alles, das gilt hier auch. Für Cernivci aber schon nicht mehr so. Und wie würd ich's finden, wenn ich gerade aus Dniepropetrovsk wiederkäme? Dann wäre Odessa wahrscheinlich noch fast wie zuhaus. Auch ein Effekt des Reisens: Man bringt sein Heimatgefühl dorthin mit, wo man sich einigermaßen vertraut fühlt. Das wiederfindet, wovon man eigentlich wegfahren wollte.
Odessa ist jedenfalls von hier aus im Nachtzug/Viererabteil für 20€ zu erreichen, der freundliche Herr vom Touristenbüro würde es buchen, ich müsste also nicht mal mit Schalterdragonerinnen streiten, das ist schon mal ein Plan.
Alte Frauen auf dem Markt bieten Kätzchensträusse an, es muss mit Ostern zusammenhängen. Der Smooth-Jazz dreht jetzt etwas manisch ab.
Ein kleines Gespräch am Tag, das sollte reichen. Ein kleiner Strauss Kätzchen.

Blick auf Cernivci von hier aus: In diesem sympatischen Restaurant werden Wodkas in 30-Gramm-Größen angeboten, im 'Bukowina', als ich einen Kleinen, maleiko, bestellte, musste ich dem Nachtkellner noch mal extra 'fifty!' einschärfen, er hätte sonst automatisch 100 Gramm eingegossen. Und grinste. Kannte er natürlich, diese Westeuropaer-Vorsicht.
Das ist Cernovski, die russische Stadt.

Auch die Deutschen mussten Tschernowitz 1939 Hals über Kopf verlassen, 50 kg Gepäck pro Person, das war Teil des Hitler-Stalin-Pakts. Hatten sie sich für die Faschisten schon dadurch entwertet, dass sie in einer so judenreichen Stadt lebten? Wieviele Freundschaften, Mischehen gab es eigentlich, gemeinsame Schulen?

Im Kunstmuseum sind Bilder von Augusta Kochanovska vom Ende 19. Jahrhunderts zu sehen, vom Leben der Huzulen, sie schrieb außerdem Aufsätze zu dem Thema in deutsch, z.B. über einen Viehmarkt in Wiżnitz (Werchowyna?) , Zeitschrift für österreichische Volkskunde, 1902. Malte auch städtische Salonbilder, auf denen man sieht, wie schon damals hier die selbstbewussten Mädchen in hochhackigen Stiefeln herumliefen. In einem Gespräch zwischen Uwe v. Seltmann und dem uralten Tschernowitzer Literaten Josef Burg behauptet der, in seiner Jugend hätten die Huzulen jiddisch gesprochen. Auch Herbert Ulrich hat von den Wechselbegegnungen zwischen Huzulen und Chassidim erzählt. Was ging vor, was ist noch da? Und was geht durch Gewalt, Umsiedlung, Vernichtung vollkommen verloren?

Die kleine Literatengruppe von 1934, Rose Ausländer, Helios Hecht, Itzik Manger, Somhe Schwartz, alle Anfang Zwanzig, sieht auf einem Foto im Museum nicht viel anders aus als eine von Caféhausgängern jetzt. Auch in Paris und New York laufen Eingeweihte rum und suchen Spuren eines kaum noch spürbaren legendären Geisteslebens (gerade in einem Interview mit Patti Smith gelesen, die ungefähr sagte: In dem Kellerclub, in dem Dylan Thomas ein Gedicht skizziert hat, ist jetzt das Klo eines Starbucks, und wir haben hier nicht soviel Geschichte, dass wir sie leichtfertig vernichten könnten).
In Tschernowitz war soviel davon, dass sich wohl nie einer gescheut hat. Mit Kultur aasen: die Rache der Unvermittelten ist es immer gewesen, dann leeren Tisch zu machen. Diese idiotische Illusion, dass das ginge. Aber auch unvermittelt wird man erst gemacht, nämlich für kulturlos erklärt, nicht einbezogen, außen vor gelassen. Je länger ich durch die Fabelarchitektur gewandert bin, gestaunt habe, taumelnd (manchmal vor Lachen), desto weniger Sympathie, ich geb's zu, blieb mir für die Rekonstrukteure des Vorher, die in gut präparierten Grüppchen die Stadt durchkämmen, auf Gestern aus sind und nichts als das. Die orthodoxen Kirchen, so voll, so benutzt, sind ein Teil von Cernivci wie die Pracht, ihr Verfall, das Verkehrschaos und das schlecht geklotzte, armselig wirkende Sozialbaubemühen der Sowietarchitekten auch. Ich war jetzt dort, wo das alles seinen Platz hat. Leben. Life only.

Abend. Gleicher Ort wie vormittags, nur dass der Klavierjazz jetzt live ist und drinnen, und in einer Nische sechs junge Männer regelmäßig laut loslachen. Ich denke an die kleine Bar auf der ehemaligen Herrengasse in Cernivci, wo Larrissa arbeitet ("Larjissa"), die dort Sport und Geschichte studiert, lieber in Kiev wäre, noch lieber in Edinburgh, wo sie nach dem Abi mal zu einem Austausch war. Kommt aus dem Grenzgebiet zu Moldavien. Geschichte sind Fakten, Zahlen für sie. Gefühle, Tradition? Ich solle mal nach Moldavien fahren, that's a strange feeling there, sie ist froh, dass die Ukraine diesen Punkt überwunden hat, das Zaudern vor der Verwestlichung.
Hat sie? Was ist das eigentlich für ein Land, ich habe keine Ahnung. Jedesmal, wenn sich neben mir in einem Bus die Leute bekreuzigen, weil eine Kirche passiert wird oder nur ein Heiligenbild, und egal, ob jung, alt, schick oder ungepflegt: alle bekreuzigen sich - bin ich irgendwie gerührt, und mokiere mich irgendwie drüber. Über - und unterlegen. Wie vor 30 Jahren in Griechenland, wo die gleichen alten Kopftuchfrauen mit Zweigen die Strasse gefegt haben.
Keine Schlussfolgerung. For safety, sagt die Studentin, kein Wunder bei den Straßen.

Dienstag, 23. März 2010

Cernivci 1

Dritter Tag in Cernivci. Ein Herbsttag, gestern war Frühsommer, vorgestern Vorfrühling. Jedesmal eine andere Stadt.
Im Vorfrühling hielt der Landbus noch am anderen Ufer des Pruth direkt am Riesenmarkt, also völlig entgegengesetzt zum Busbahnhof, und weil ich keine Ahnung hatte, ging ich der Straße nach wie im Reiseführer beschrieben. Über den grauen Fluss, durch schmuddelige Vororte, in denen langsam alte brüchige Hochhäuser wuchsen, dazwischen Holzhäuschen im Bauernstil, einmal ein richtiges Hexenhaus aus Blech, vor dem eine sehr zerzauste rauchende Hexe einen Schwall Eimerwasser ausgoss. Die alte Stadt sah man immer mal oben am Berg, und irgendwann auf einer Brücke sah ich auch den Bahnhof, da wusste ich, dass ich völlig woanders war als angenommen, im Norden nämlich - ausgeschlossen, von hier aus zum Hotel zu laufen.

Selten unfreundlichere, inflexiblere Schalterkräfte erlebt als die zwei Damen, die mir nach zähen Verhandlungen einreden wollten, zwischen Czernowitz und Lviv, an einer Hauptstrecke also, würden an einem normalen Wochentag nur zwei Züge verkehren, und zwar einer um 4 Uhr morgens und einer 23 Uhr 19. Und die würden jeweils 8 Stunden 30 brauchen für 290 km. Wahrscheinlich hatten sie sogar Recht, und der prächtige Bahnhof von 1900 ist nur eine Utopie ins Vergangene, was Weltanbindung, schnellen Transport und vielsprachigen Umgang miteinander angeht.
Wie selbstverständlich freundlich dagegen die Atmo im Hotel Bukovina, in das ich mit dem O-Bus fuhr, zum ersten Mal ein städtisches Verkehrsmittel, 7 Cent Kosten, zum ersten Mal der hiesige Dialekt, der die mittleren Vokale dehnt wie ein Triller einen Ton: Ghotel Bukowjienna, ya Larrjissa. Sozialistischer Langbau mit klapprigen Fahrstühlen, schwankendem w-lan, plüschigem Restaurant, aber einer freundlichen Bar und fittem Rezeptionspersonal, das die Wünsche polternder ostukrainischer Handballmanager genauso gut befriedigen kann wie die verstrubbelter deutscher Stadterkunder oder mit Handspiegel bewaffneter dauertelefonierender Assistentinnen.

Czernovitz, mehrere Städte in einer, am blauen Rathaus steht in neuer Schrift das alte Habsburg-Motto 'viribus unitis', gemeint ist jetzt wohl die vereinte Kraft aus Industrie, Handelszentrum, Unistadt und Traditionshort. Hier gibt es immerhin noch oder wieder eine jüdische Schule, ein Institut bukowinischer Schriften und Biografien, Stiftungen, die mit dem Kulturerbe umgehen, Forschungsaufträge, die die Stadt der Zukunft zuwenden. Architektur und Namen, damit kommt und erschlägt einen die Stadt, wenn man nicht aufpasst.

Erster Spaziergang nach Dusche und obligatem Telefonieren aus der Halle, ein kleiner Platz Richtung Innenstadt, gerade mal die Jacke ausgezogen, Blick auf ein unauffäliges Denkmal: Es gilt Paul Celan. Er hat viel besser, auch höher im Ort gewohnt als Rose Ausländer, als sie Kinder waren, stelle ich später fest.
Czernovitz ist auf (7?) Hügeln gebaut. Auf einem Bild im jüdischen Museum wird die Analogie zu Jerusalem gezogen, aber wo nicht? Selbst in Mannheim.
"Cernovitz, auf halbem Weg zwischen Kiev und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas. Wo die Bürgersteige mit Rosensträussen gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien." So steht es auf einer Tafel am Kunstmuseum ohne Zitatangabe.
Als Hauptstadt der Bukowina war dies die habsburgische Stadt, in der Juden alle Rechte hatten, die andere Bewohner auch genossen - so habe ich es verstanden. Wie im Selbstlauf entwickelte sich ein hochtouriges kulturelles Leben, hier gab es eine Weile die meisten Zeitungen überhaupt an einem Ort (über 100?), Verlage, Dichterkreise, Theater, ab 1875 eine Uni. 60% der Bevölkerung waren jüdisch. Aber es muss auch die andere Bevölkerung gegeben haben, die vom Land kam, es gab von hier ausgehend immerhin auch die Chassidim-Bewegung der Juden, die die städtische Assimilation an das europäische Leben samt Verweltlichung ablehnte. Ein Haupt-Chassidim-Guru Israel Friedmann, dem man Charisma, Lebensweisheiten und Wunderheilungen nachsagt, führte auf einen Hügel neben der Stadt in Saradoga vor 200 Jahren ein Leben in Saus und Braus, während seine Anhänger darbten. Ist er ein Urahn des Namensvetters? Gab es in seinem Hofstaat auch einen Wadenbeißer, der Broder hiess?
Die kleinen ländlichen Häuschen blieben jedenfalls mitten in der Stadt Jahrhunderte stehen, sie sind die Stadt zusammen mit den k.u.k.-Prachtbauten, man findet immer noch ganz viele davon, ebenerdig oder einstöckig, klein, windschief, bescheiden, neben der prächtigen Hauptpost, den prallen Kirchen, Hotel Bristol, jüdischem Haus, deutschem Haus - das relativiert die Rede von der heimlichen Hauptstadt ein bisschen, finde ich, der Wille zum Klotzigen war hier wohl immer gebrochen, die Neigung zum Ländlichen nicht loszukriegen (vielleicht auch zum Sterngucken), und vielleicht ist es kein Zufall, dass sich in dieser Stadt eher Lyriker entwickelten als Systemtheoretiker, Staatsführer oder Konzerngründer.
Auf einem Kongress 1908 sollte die jiddische Sprache hier als Verkehrssprache der Juden eingeführt und international anerkannt werden. Professor Natan Birnbaum hielt eine Eröffnungsrede, die er sich erst ins Jiddische hatte übersetzen lassen müssen, weil er es gar nicht sprach. Trotz mehrheitlicher Zustimmung tat sich nachher nichts Internationales für das Jiddische.
Cernivci ist das Gegenteil eines Museums. Die paar Museen wirken eher wie Nischen, in denen ein bisschen Ordnung gemacht wurde. Vom O-Bus aus sah ich den Hügel hoch vom Rathaus weg im Vorbeifahren eine Flanierstraße, die Sorte Straße, auf die man sich sofort freut. 'Herrengasse' hiess sie früher, hier spielt auch heute das abendliche Leben, sehr russisch für den Laien - Tanz, Suff, Flirt, Musik, aber nicht wie in Lviv noch unter dem Schirm internationaler Zeichen und Ketten. Dafür stehen fette Karossen am Strassenrand, sogar die hässlichen Hummer sind dabei, manchmal sieht man ihre Besitzer (oder deren Chauffeure?) mit Pinselchen sorgenvoll Lackschäden ausbessern. Die Polizei macht in alten Ladas Kontrollen und winkt immer die genauso Bescheidenen raus, als wenn sie sich anders nicht trauen. Mich hat ein wildgewordener Offroader vorm Hotel jedenfalls fast erwischt (Racheversuch über Länder weg).

Im jüdischen Museum ein Brief eines Rabbis aus Wishnitz von 1908 an eine hohe Behörde in Wien mit der Bitte um Unterstützung von Hassidim in Palästina. Was ich gar nicht wusste: Während der rumänischen Zeit der Stadt gab es starke jüdische Jugendgruppen, die die Auswanderung propagierten. Der europäisch orientierte Teil der Mittelschicht hielt dagegen. In Rumänien war das Klima gegen die Juden schon härter, aber alle Zeitungen erschienen noch. Das Schiller-Denkmal vor dem Theater wich einem für Mihai Eminescu, der auch hier geboren ist, jetzt steht da eins für die Dichterin Ol'ha Kobyljans'ka.

Jetzt ist der Theaterplatz einer der Treffpunkte. Ein playbackbewerter Gitarrist bluest vor sich hin, zwei schwer Angetrunkene rufen was zu den wartenden Polizisten, die nach nicht gut Kirschen essen mit aussehen, beim dritten Mal greifen sie zu, und der festgehaltene Trinker beschimpft sie, ich verstehe Russki und Sowietski, Vasallen des Gestern also. Auf die kleine wartende Menge wirkt das nur müde. Die meisten greifen gleich wieder zum Telefon.
Man kann in größter Enge stehn oder Kälte oder es ist tierisch laut: telefoniert wird immer. 30 Hryvnien, sagt Anna, zahlt man im Monat und hat das Inland frei. 2,90 €. Was für Gewinnspannen bei uns. Man erkundigt sich nach einer Ware, telefoniert dabei und klaubt noch geschickt das Wechselgeld vor. Der Mann, den ich auf dem riesigen jüdischen Friedhof nach etwas fragte,war nicht etwa, wie ich befürchtet hatte, verärgert wegen Missachtung der Totenruhe, sondern genervt, weil er telefonierte. Aber nur ein bisschen - eine Kleinigkeit, so eine Auskunft und so ein Gespräch zusammen zu erledigen...

Ein ziemlich unscharfes Foto von 1941 im jüdischen Museum zeigt eine große Zahl Menschen an einem Ufer. Crossing The River Dnister to Transnistrien steht darunter. Es wirkt wie ein großer Ausflug, die Menschen sehen gesund aus, ein bisschen besorgt manche, andere abweisend, manche baden, andere beten.

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