Reisen

Sonntag, 21. März 2010

Splitter Kolumya

Als ich in Kolumya, das die Busfahrer Kolomäh aussprechen, ankomme, baut sich der Chauffeur vor mir auf. "Pan", sagt er, ich find es immer noch merkwürdig, so genannt zu werden, "Ghotel". Er zeigt auf ein unverputztes Betonhochhaus direkt am Straßenrand, Stefan Pankiv hatte ihn wohl gebeten, mich darauf hinzuweisen. Ich gehe rein, eine leere Halle, die Rezeption abgeräumt, dahinter ein Saal voll hochgestellter Stühle. Irgendwelche Schilder, die ich nicht lesen kann. Ich gehe raus, links angrenzend eine Bar, wo ich frage: "Ja, Hotel", nicken zwei junge Frauen und zeigen, woher ich komme, ich geh wieder zurück. Rufe, probiere den Fahrstuhl, manchmal sind die Rezeptionen ja im 1. Stock. Dieses Hotel steht aber ganz offensichtlich leer. Aufgegeben.
Ich gehe in die Bar zurück , bestelle Kaffee. Ein Mann im schwarzen Anzug steht jetzt auch dabei, er und die jungen Frauen sagen fassungslos (sinngemäß): Ja, das Hotel, gestern war's doch noch da - da hat bisher wohl keiner was gemerkt. Aber getaugt hätte es eh nichts, sagt die eine Frau, die gut deutsch spricht, und ob ich nicht was essen will. Ob ich Wladimir Klitschko kenne, sie zeigt mir Bilder von ihm an der Wand. Ist der von hier, frage ich, das nicht, sagt sie. Ihr Mann habe auch mal geboxt. Das beste Hotel am Ort sei das Wyschnody, ob sie mir ein Taxi rufen solle. Was weniger weit ist als 2 km, laufe ich, sage ich, und sie wünscht mir einen guten Weg.
Draußen ist der Frühling ausgebrochen. Als ich vom Klo komme, ist die Deutschsprechende weg, und eine neue Frau kichert mit der anderen: Wladimir Klitschko, ha ha ha...

Kolumya oder Kolimea oder Kolomäh - ukrainisch, russisch, polnisch, eine Bauernstadt mit zwei guten Museen, ein paar Behörden, großem Markt. Aus Ruhebedürfnis miete ich das Zimmer für zwei Tage. Hier ist Armut, zum ersten Mal auffällig Bettler, jammernde Frauen, eine zeigt ihr aufgeschwollenes Bein, Zigeuner, blinde Losverkäufer. Besoffene schon am frühen Abend, diesem Klischee eines ehemaligen Ostblocklands bin ich so lange nicht begegnet. Abends weg von der Flaniermeile gibt es kaum Strassenbeleuchtung, Kirchgänger kommen mit Taschenlampen, man springt über Steine und Dreck.
Auch auf dem täglichen Markt Fäulnis (um mal zu predigen), manches sieht lässiger aus als es ist, meinem 'guten' Hotel angeschlossen eine Gaststube, wo ich am zweiten Abend schlecht esse unter lautem Technogedröhn, da ist das Gefühl des Aufgegebenen greifbar, irgendwann schlägt das zurück, denke ich. Mache mir beim Warten Notizen. Aber es wurde dann trotzdem (oder gerade deswegen) noch ziemlich lustig: Unabsichtlich schloss ich nämlich nach dem Essen zwei ältere Herren im Flur ein, der eine war richtig böse auf mich, während eine andere Gesellschaft jüngerer Leute das sehr komisch fand und mich wie einen Helden behandelte. Die Kellnerin, eine schmale Riesin in Socken, brachte mir Wodka, den wir dann zusammen tranken.
Aus den Notizen beim Warten im Bumms-Lokal:
"Das Schlimmste ist, nicht mehr rauszukommen aus den Missverständnissen. Die eigentlich gar keine sind: Ich werde hier akzeptiert, weil ich Geld ausgebe. Idealismus, Romantik, von etwas anderem auszugehen.
Aber die Romantik ist ja trotzdem da. Weil wir uns nicht übers Einnehmen & Ausgeben definieren möchten, alle nicht. Wir stehen Schlange nach anderem Sinn. Nur wenn du nichts mehr zu bieten hast außer deiner Sinnsuche, steckst du fest. Sie fordern Lösegeld,wenn das nicht mehr kommt, bist du drin. Wie man hopps geht, ohne dass irgendwer nach irgendwelchen Verdiensten gefragt hätte, das haben wirklich bedeutende Reisende erlebt und erleben es gerade. Da zählst du gar nichts."

Dann wieder der ununterbrochene Strom von Mädchen auf der Hauptstraße, auf die ich schaue, oder im Internetcafé, das hier übrigens mit schülerfreundlichen Preisen wie eine Bäckerei tolerant geführt wird - die Mädchen in der Gegend sind fast alle strahlend, lieblich, langbeinig, bunt gekleidet mit viel Aufgesticktem, Selbstgenähtem, oft glitzernden Kappen, halb noch Tracht, halb selbstgemachte Mode und fast alle hochhackig, das scheint die Norm zu sein. Tragen meist schwarze, mit Mustern bestickte Netzstrümpfe und drüber gewaltige Stiefel mit schmalen sehr hohen Absätzen. Schon mal Sport, in dem unebenen Dreck damit voranzukommen. Ehe sie ein Lokal betreten oder auch nur die Hauptstraße, habe ich beobachtet, machen einige sich am Brunnen oder mit Feuchttüchern die Schuhe schnell sauber. Sie sind laut, selbstbewusst, schauen gern jemand in die Augen, es ist keine Coolness, sondern Lebenslust, was sie ausstrahlen.
Ich muss es leider schreiben, die Jungs fallen weit dahinter zurück, wirken kindisch, noch lauter, aber krampfig, als wenn man sie drangsaliert hätte und sie bestehen jetzt darauf, auch ein verdammtes Recht zu haben.
Es muss sich irgendwann ändern, schon die Männer ab Anfang Zwanzig wirken solide, zuvorkommend, manche humorvoll. Und sicher sind es Zufallsbeobachtungen voller Klischees.
Deshalb hier zum Schluss zwei Beobachtungen vom ersten Abend auf dem Balkon meines Zimmers, direkt überm Platz, wo sich bis Mitternacht alles trifft:
Irgendwas ist im Gang, junge Typen, es sieht aus wie Rangeln, schubbsen sich über den Platz, der Pathetische wird zurückgedrängt, kommt wieder vor, plötzlich ein anderer aus anderer Richtung, sehr entschlossen, schiebt sich durch zu dem Pathetischen, packt ihn, schleudert ihn, der rennt auf einmal los, viele hinterher, sogar ein Polizistenpärchen. Aufgeregtes Geschrei dann von weiter weg.
Zwei Mädchen: Wie sie losgehen, eingehakt stehenbleiben, weil sie sich das unbedingt noch erzählen wollen, dann in doppeltem Tempo wieder los, pretty flamingos...

Freitag, 19. März 2010

Ins Gebirge

Der Gutwetterstrahl hat die Nacht nicht überstanden, wieder grieselt es und schneit. Erstaunlich geordnete Einrichtung der Reisegesellschaft im Bus, bis kurz vor Abfahrt zehn markige Pelzmützenmänner hereinstürmen, uns Eingestiegene von den Plätzen stöbern, indem sie vorgeben, Platzkarten zu besitzen. Da kann ich aber ganz stur werden: wüsst ich nicht, hier mein Ticket, versteh kein Wort, hab gutes Geld für den Fetzen bezahlt. In dieser Pose hilft mir mein Fremden-Status schon zum zweiten Mal, das geht alles wortlos, sie lassen mich in Ruhe. Am Fenster. Es geht hangaufwärts durch Villengärten. Plötzlich fühl ich mich wie in Soughia, wenn ich alle zwei Wochen mal nach Chania gefahren war, in die Großstadt, es war manchmal genau so kalt. Vor 31 Jahren. Nur dass diesmal das Unbekannte erst kommt, versuche seinen Charakter an Zeichen abzulesen, das gelingt natürlich nicht. Die Pelzkappenmänner steigen schon wieder aus, soviel Unruhe für so wenig Fahrt. Sie haben ihre Skier in Plastikschürzen verpackt dabei, hinten eingelagert, wo auch mein Koffer verstaut ist. Jetzt wird meine Sorge, der könnte nach draußen geraten, Absicht oder nicht, dann war's das eben. Verbiete mir, mich für das Liebste in diesem Koffer entscheiden zu müssen, das mir verloren gehen könnte. Zwinge den Blick raus durch die verwaschene Scheibe. Ein wunderschönes Synthipoplied aus der Fahrerbox tut mir gut. Draußen alte Sowiet-Freizeitheime namens Kollege oder Patriot. Im Bus möglichst nicht gradeaus zum Fahrer gucken, es rast immer gerade jemand auf uns zu oder eine vereiste Kurve kommt, und alle Instinkte schreien vergeblich nach Abbremsen. Könnte ich sonst so gottergeben sein wie gegenüber diesem völlig zufälligen Busfahrer, ich wäre glücklicher. Kann man glücklicher sein?

Die Orte sind jetzt ärmlicher, die Schneepiste lädt den Fahrer, der hier wohl zuhaus ist, zu Schlidderspielen ein, die sich nur noch als Überholmanöver tarnen.
Ein paar Holzhäuser, paar ärmliche Stände mit Fischen und Nüssen, weiter weg eine prächtige russische Kirche aus Holz, Busbahnhof Werchowyna. Wieder als letzter rausgestolpert, kommt eine große Frau im Mantel, etwas jünger als ich, auf mich zu, "ich bin Anna", wir verstehn uns erstmal gleich. Auf durchlöcherter halbgefrorener Hauptstraße durch den Ort, Autos rasen die Fußgänger an die Ränder. Wie das heißt, fragt Anna und zeigt nach unten, Matsch sage ich, sie lacht. Sie nutzt mich aus zum Deutschauffrischen, ich versuchs umgekehrt auch und lerne priapo = geradeaus.
15 Minuten lang, dann sind wir da, Haus und Gästehaus, aus Holz und wohnlich, erst wirkt es warm,aber die Kälte zieht immer wieder ein. Noch vor kurzem waren hier -30 Grad, "Leben hier ist immer harte Arbeit", meint Anna, schon das ewige Holzschlagen zum Heizen der Öfen, sie wundert sich, warum ich gerade jetzt gekommen bin. Ich wundere mich auch. Aber der Blick aus dem Fenster auf die Kuppen ist märchenhaft, das Essen lecker. Maiseierbrei mit huzulischem Brot.

Dann gehen wir Roman Kumlik besuchen, den preisgekrönten Musiker, der 30 Instrumente spielt, huzulische Musiken tradiert, Volkskunst sammelt in seinem Privatmuseum, zwei Räumen im ersten Stock seines Hauses. Der ältere Herr erwartet uns in Schale, gestickter Festjacke über der Lederweste, und präsentiert mit kurzen Melodiebögen die Instrumente, Geigen aus einem Ast gehöhlt, Signalhörner, die über Berge weg von Tod und Hochzeit benachrichtigen, eine Cimbal, wie ein Hackbrett geschlagen, aber (huzulisch) ohne Metall an den Klöppeln, mit wunderbar weichem in die Tiefe reichendem Klang, eine Lyra, zu deren Borduntönen er mit den Tasten Melodien improvisiert und dann erst tief, dann hoch eine Ballade singt. Flöten jeder Art, auch solche, die mehrere Töne gleichzeitig spielen, wenn man es kann, eine sogar in Sechsten und Terzen gestimmt, und eine, die eigentlich ein Knüppel ist und nur vor der Polizei als Musikinstrument getarnt wird. Der Meister zeigt auch Hochzeitskleider, Stickereien, Gebirgsschuhe, er geht geschäftig durch seine Sammlung, ein bisschen ist es wie bei dem alten Partisan in Norditalien letztes Jahr, er hat diese Runde mit Besuchern oft gedreht, kennt die Wirkung. Er bricht die Klangbeispiele immer geradezu zackig ab. Bis er am Ende auf einem Ziegendarm zweistimmig bläst, das ist ein so greller, gleichzeitig weicher Klang, dem hört er nach und lässt leise mit dem Spielen die Luft raus. Jahrhunderte alt, gerade geschehn.

Einkaufen mit Anna, es wird alles zu teuer im Verhältnis zu Löhnen und Renten. Die Leute lassen die Autos stehn und fahren Bus (ein Liter Benzin kostet umgerechnet 74 Cent). Wer öffentliche Aufträge kriegt, wirtschaftet in die eigene Tasche (Straßenbau), nan hat jetzt Janukowitsch gewählt, der in der Westukraine eigentlich unbeliebt ist, "aber er schafft Ordnung".
In der Westukraine hat man alle Lenindenkmäler abgehauen nach 91, in der Ostukraine stehen sie noch. Dazu passt, was Josef in Lublin erzählte: Unter den russlandergebenen Oligarchen im Osten des Landes stehn die Löhne mittlerweile 2,5 mal so hoch wie im 'orangenen' Westen, der die Korruption der angeblichen Revolutionäre voll zu spüren gekriegt hat.

Auf meine Frage, was das kleine Haus da am Wegrand beherbergt, kurzer Besuch in der Kinderbücherei. Zwei strahlende Bibliothekarinnen zeigen, was die Kinder alles gemalt und gestickt haben zum Geburtstag des Dichters Jewtschenko und an Lieblingssätzen herausgeschrieben, Anna bedauert, dass es keine Computer hier gibt, ich erzähle, dass meine Eltern Bibliothekare waren, und so strahlen wir uns an. Abends ein wunderbares Essen mit Teigrollen und Borschtsch, Andrej, der Sohn, geht mir aus dem Weg, wie es Max tun würde, Anna erzählt von den Selbstversorgern im Berg, dreimal im Jahr kaufen sie Mehl und Reis und Öl, sonst pflanzen und backen sie selbst, auch hier im kleinen Garten wird einiges angebaut, Beeren gesammelt für Tee, man kommt nur so über die Runden.

Die Kindertanzgruppe, die Anna leitet, reist in Europa herum, es ist für die Kinder ein Projekt ihres Erwachsenwerdens, zwischen Zehn und Zwanzig besuchen sie die Gruppe, erst mit dem Berufsleben scheiden sie aus. Für Anna ist es die dritte Gruppe in 30 Jahren. Und genau so existentiell ist die Pflege der huzulischen Sitten - Tradition im Sinn des Über-die-Runden-Kommens, aber auch Tor zur Welt, denn mit diesen Musiken, Tänzen, in den Trachten und den hier noch nicht ausgestorbenen Bräuchen kommt man weg, raus, in der Gruppe rund um die Welt, wird eingeladen, findet Projekte. Freunde woanders. Es ist auch ein bisschen wie Sport, es muss Gründe geben,warum solche Sitten erhalten werden, es passiert nicht aus Naturliebe oder Idealismus. Was meine Mutter traurig gemacht hat: dass die Nachfahren die schlesischen Bräuche nicht pflegten, die jungen Bayern im Urlaubsdorf nur unter Zwang oder für Geld in die Trachten zu kriegen waren - hier ist es naheliegend, gewinnbringend und deshalb auch modern. Sicher spielt auch die endlose Kette der Unterdrückung inkl. sowietischer Verpönung der religiösen Aspekte der Riten hier eine Rolle, die erst jetzt, seit knapp 20 Jahren, einen lauten Stolz auf die Wurzeln erlauben.

Stefan, der Ehemann, kommt nach dem Essen. Nach seiner Arbeit in der Musikschule trinkt er gern mit den Kollegen einen Schnaps. Ein bisschen reserviert ist er erst, bin ich auch. Bald radebrechen wir, ohne eigentlich was zu verstehen, dem Gefühl nach, wir bilden uns ein, etwas gehört zu haben, auf das wir antworten könnten. Anna lacht, sie findet es 'Katastroph', wir wir aneinander vorbei reden. Wodka hilft. Stefan spielt mir am Computer seine Kompositionen vor, die er mit Andrejs Hilfe aufnahm: Variationen von Volkstanzthemen, Eigenes für Akkordeon, Bandoneon, Klavier, manches auch Skizzen für Orchester und Chorstücke. Stefan spielt großartig Knopfakkordeon, ein russisches mit rasselnden Bässen gefällt mir besonders. Mit Roman Kumlik und Kollegen hat er ein Tanzorchester, das in Europa und Russland herumreist, für die Musikschule entwirft er Projekte, komponiert und arrangiert. "Rabot rabot rabot" sei sein Leben.
Die Bezahlung an der Schule ist auch für ukrainische Verhältnisse erbärmlich, das Touren in den 'Schengen-Raum', also auch schon nach Polen oder in das 40 km entfernte Rumänien für Ukrainer ganz mühsam geworden. Um die Visen für ihre Tanzgruppe zu einem Festival in Deutschland im Mai zu bekommen, muss Anna dreimal nach Kiev fahren und wird dort auf der deutschen Botschaft trotz vorliegender offizieller Einladungen alles andere als freundlich behandelt. Man muss sich übrigens nur mal die ins Netz gestellten Verlautbarungen des Auswärtigen Amts zur Ukraine, zu Weißrussland oder Moldavien durchlesen, um den Herrenreiterton rauszuhören, mit dem dort auf die da unten, draußen oder sonstwo herabgeschaut wird. Mit verheerenden Resultaten für den Kulturaustausch unterhalb hochdotierter Institute, also überall dort, wo begeisterte Menschen miteinander zu tun bekommen könnten (und nicht 'Stipendiaten'). Ich vermute auch in dieser ganz praktischen Arroganz des reichen Nachbarn die Handschrift von J. Fischer, der Goetheinstitute schleifen ließ, und wahrscheinlich nur, um der Altherrenriege im AA zu gefallen. Früher ging das ja auch mal ohne Kulturaustauschfirlefanz.
Von Werschowyna nach Kiev fährt man übrigens 14 Stunden, 14 wieder zurück, das dreimal. Wenn ein Beispiel gesucht wird für Enthusiasmus...

Tak tak tak, ist ein Seufzer bei den Pankivs, ja ja ja, ich höre ihn auch sonst, Ergebenheit strahlen die Alten auf dem Basar aus, die ein bisschen Obst verkaufen oder geeisten Fisch, ein Geweih, Nüsse. Zwischen ihnen gehen die Jüngeren herum, manche in Trachtenjacken und mit glitzernden Mützen, elegante langbeinige Frauen, dezent ausspuckende Männer mit Leibriemen um, die sie schlanker und gerader machen. Eigentlich ist die huzulische Art nicht Ergebenheit, die Musik, sagt Anna, ist eigentlich immer schnell, voll Verzierungen, auch die Kleidung bestickt, mit Aufsätzen bunt gemacht, kein Raum für Melancholie im öffentlichen Ausdruck. Auch in den Tänzen nicht, die ich auf Video und später in der Musikschule sehe, die Musik treibt an und die Figuren verzahnen sich fröhlich. Drängend. Die Härte, zu der die Natur zwingt (der Sommer ist extrem kurz), drängt weiter zu Optimismus.

Ich mache lange Spaziergänge. Vor drei Jahren hat es im Frühjahr schlimme Überschwemmungen gegeben, der Ceremos riss den halben Ort unter Wasser. Brücken sind notdürftig geflickt, aber die Straßen blieben, weil eh schon zerlöchert, kaputt. Mit ganz klapprigem Altfuhrpark stochern die Fahrer zwischen Rinnen und Gräben im Schritttempo daher, da kommt ein neuer blitzend getönter Mercedes mit gefühltem Tempo 100, rast durch den Ort, durch alles durch, sagt damit: scheiß auf euch, ich kann's mir leisten.
Nachts wurde es immer wieder minus 15 Grad, wir saßen bei Keksen und Schnaps, rührend legten sie im Gästehaus Holz nach und ließen es mich nichtmal versuchen. Stefan schrieb Stimmen raus für die Probe morgen. Ich dachte: Wie bei Bachs vielleicht, ein Genie weitab der Hauptstadt, das hier sein Handwerk versieht.

Ein Schaben am Fenster: Pferdefuhrwerk liefert Holzlatten an für dem Umbau des Hauses, der im Sommer geplant ist.
Am nächsten Tag eine Tanz-, dann Musikprobe. Es geht Schlag auf Schlag, eine Gruppe folgt der vorigen, Akkordeonquartett, zwei unvorbereitete Jungs, die beschimpft werden, eine kleine Hochbegabte, die immer mich im Blick hat, solange ich im Raum bleibe, dann die große Besetzung, für die gestern noch gearbeitet wurde. Acht Mädchen singen wilde Tonfolgen auf lalala (später wird diskutiert, ob vielleicht eine lyrische Variante möglich wäre), dazu Standbass, Trompete, Geige, Akkordeon. Die Chorleiterin und Stefan geben den Takt an. Die Mädchen, umso älter sie sind, desto vorsichtiger, die Jüngeren gehen voll aus sich raus. Aber keine zeigt, dass sie es albern fände, doof, hier zu stehen und zu singen, die erwachsenen Musikanten sind genauso hingegeben, es geht um die gemeinsame Sache, es sind ihre Lieder, von einem von ihnen zusammengefasst, in zwei Tagen ist Aufführung, stolz, es geht ums Machen.
Nachher mit den Musikern Schnaps, der Bassist erzählt, er war zwei Jahre in Portugal arbeiten. Als Musiker, frage ich. Lachen. Arbeit, sagt er, als Arbeitsschwein.
Viele Pläne am letzten Abend. Zum gemeinsamen Spielen sind wir gar nicht gekommen, denn der Flügel, der übrigens 'Rote Erde' heißt, war immer sofort in Beschlag. "Coda" sagte ich mal bei einer von Stefans Kompositionen, er stutzte und lachte. Als wir dann meine Platte hörten, sagte er beim letzten Stück grinsend, als endlich die Bläser einsetzen: "Coda gutt". Jetzt sagen wir, dass wir mal eine Coda zusammen machen.

Am nächsten Morgen, Anna musste früher los, wird der 44 Jahre alte Wolga angeworfen. Schafft es zum Busbahnhof und bestimmt weiter.

Ivano Frankivs'k - Splitter

Ein Teller im Heimatmuseum, das im Rathaus von IF untergebracht ist, zeigt eine Schar von folkloristisch gekleideten Männern, vom Tirolerbub über den Ungarn mit Schlappschuhen, den slawischen Waidmann bis zum Muselmann, im Halbkreis aufgestellt um das Antlitz des Kaisers, Gott erhalte Franz, das über ihnen schwebt, drunter das Motto: viribus unitis. Kurz vor dem 1. Weltkrieg verfertigt. Ich weiß, glaub ich, was es bedeutet, aber was heißt es genau?

Die Habsburger Zeit, Spuren finden sich überall, sine ira et studio steht z.B. am Gericht, hat dafür gesorgt, dass hier verschiedenste Völkervertreter zusammenlebten, Armenier z.B., Pfälzer Auswanderer wie die mütterlichen Vorfahren von Kristjane, Juden, die hier rechtlich unter den Deutschen standen, während sie weiter östlich in Tschernowitz gleichgestellt waren. Hass und Vorrangkämpfe untereinander haben die Habsburger Beamten und Militärs wohl nicht zu schlichten vermocht, jedenfalls liest sich die Ortsgeschichte wie ein ständiges Brodeln und Explodieren. Das mündete in den Massakern, die Deutsche (SS und Militär) zusammen mit Polen und Ukrainern Ende des 2.Weltkriegs an den Juden begingen, dann Deutsche und Ukrainer an Polen, dann Deutsche an Ukrainern, wobei ihnen erst Sowjetsoldaten dabei halfen, die dann mit den Ukrainern die Deutschen vertrieben und später zum Industrieaufbau Mitglieder asiatischer Sowietrepubliken nachholten. Was die Kriegsmassaker betrifft, sind sie penibel in dem Buch 'Die Schlacht um Stanislau' festgehalten.

IF hieß seit 400 Jahren Stanislav nach dem Sohn eines polnischen Fürsten, der (Sohn) vor Wien beim Sieg über die Türken 'fiel', die Habsburger in ihrer scheintoleranten Art übernahmen den Namen einfach, statt die Stadt jetzt Ferdinand zu nennen. Das taten nach 45 die Ukrainer (mit Zustimmung der Sowjetrussen), indem sie den Dichter Ivan Franko zum Patron machten, einen ukrainischen Bauernjungen und Sozialisten, der zum Nationaldichter wurde und von dem ich im galizischen Sammelband gerade eine sehr sympatische Erinnerung an seine jüdischen Mitschüler gelesen habe.

IF wirkt klein und provinziell. Später bei den Huzulen höre ich von Anna Pankiv, deren Kinder dort arbeiten, IF sei eine richtig große, auch industrielle Stadt. Davon hab ich nichts mitgekriegt, außer dass im ausgedehnten Heimatmuseum auch ein Zimmer der Ölförderung gewidmet ist, aber alles in kyrillisch, also für mich um so unverständlicher, als es sich bei dem Nichtgeschriebenen um technische Zeichnungen gehandelt hat, die ich noch weniger entziffern konnte - außerdem ist dieser Ölabbau Jahrzehnte her.

Es stimmt, ich meide die Vororte, verlasse mich ein bisschen viel auf Tipps von Reiseführern und Bekannten, und da sagt keiner: Schau dir aber unbedingt die Hochhaussiedlung xy an, so roh und wild lebt sich's östlich von Lemberg kaum noch. Das müsste ich schon selber tun. Ich rede mir ein, nur der miserable Nahverkehr hielte mich von solchen Exkursionen ab.

Mein Zimmer im Hotel Auscoprut, einer blau getünchten Jugendstilvilla von 1912, geht mit Balkon zur Straße im ersten Stock, hat einen großen Schreibtisch, ein rundes Teetischchen mit zwei Lehnsesseln und zwei schmalen Betten mit dunkelbeigen Samtüberwürfen, dazwischen eine Kommode. Auch die geschwungenen Vorhänge sind aus Samt, gleiche Farbe, dahinter schließen noch Gardinen den Blick zur Straße ab. Alles vorbereitet für kontemplative Stunden. Ich kann mich in den Gelehrten, Lehrer oder Geschäftsmann von damals gut versetzen, der aus beruflichen Gründen hergekommen ist und jetzt dort täglich raus muss, in Matsch und Dreck und Ungehobeltes weit im Osten, aber jede Stunde genießt, die er abhalten darf in diesem Zimmer, mit der Hoffnung auf jemand, der es irgendwann einmal zu klein sein lassen wird, oder auch ganz in sich gespannt, jedenfalls bei einem Kännchen Tee, das mir die englisch sprechende Dame an der Rezeption vielleicht auch machen würde.

Der Rathausplatz von IF wird beschallt, Werbung und Musik, ob auch politische Parolen und Lebensweisheiten dabei sind? An einer Seite des Platzes parken drei Stretchlimousinen. Als ich ankomme, sind sie ganz verschneit. Wer fährt sie und vor allem wie durch all die Schlaglöcher?

Auf der Suche nach w-lan am ersten Abend lotste mich ein starkes Netz namens Frank, das mein Handy anzeigte, auf die Straßenseite hinter den Mafiaautos, ich entzifferte den Namen des Lokals, Frank, erschrak vor der berlinisch teuren Speisekarte, sah ein Schildchen free hot spot und ging rein. Eine Empfangsdame, rausschmeisserartiger Kartenbringer und ein naseweises Bürschchen, das dann die Bestellung aufnahm. Im Nebenraum eine fröhliche Gesellschaft. Ich bestellte etwas mittleres im Preis und fragte nach Internet. Der Naseweise murmelte was von 'carta', die man dazu brauche, der Rausschmeisser tat, als wüsste er gar nichts. Die Empfangsdame merkte dann, als ich sie auf den hot spot ansprach, dass es mir ernst war und gab mir die Codenummern. Ohne sie wäre ich sofort wieder gegangen, ich war nur in zweiter Linie zum Essen hier. So konnte ich wiedermal ausgiebig telefonieren, auch Tage später noch, denn das Netz ging ja bis auf den Marktplatz, und die Zahlen hatte mein Telefon jetzt gespeichert.

Erst sieht es nach kaum was aus, aber mit bisschen Übung im Blick gibt es überall im Zentrum von IF Kellercafés, Esslokale, Tanzschuppen. Zum Feiern bereit, der Ort. Auch der krasse Gegensatz zwischen Luxuscafés, in denen man von einer Empfangsdame platziert wird und wo der Esspresso zehnmal soviel kostet wie im Keller nebenan - und eben diesem Keller, von dem aus Abordnungen geschickt werden, eine(r) leistet sich im Auftrag der andern ein teures Getränk und lotst Befreundete an den preiswerteren Ort. Und umgekehrt. Und drei Leute halten sich im teuren Café zwei Stunden an einer Cola und einem Laptop fest.

Einem Reiseführertipp folgend langer Abendspaziergang nach Süden. Immer noch Innenstadt. Nach scheußlichen 60er-Jahre-Gebäuden kommen Gründerzeitbauten, aufgeschürft, Friedenau in der Nachkriegszeit, dann Jugendstilvillen, ovale Fronten und Dächer mit Zierrat, der bei uns Kolonnen von Zierratschützern hervorrufen würde und hier an der Luft vergeht, aber im Vergehen zu sehen bleibt. Dann zwei Straßen weiter alte Stadtarbeiterhäuschen, ich schätze 250 Jahre alt, Pferdewagen könnten davor stehn, aber es sind dicke Männer mit Handys, dann wieder Neubauten, noch eine Jugendstilvilla. Es geht im Stadtplan von IF zu wie in den beiden Museen, querbeet, armenische Marien wechseln mit österreichischen und den detailunterschiedenen der byzantinischen Kirchen, nur jüdische Heiligtümer sind nicht mehr da. Das jüdische Viertel ist auch zerstört.
Auf meinem Spaziergang kommt jetzt ein beleuchteter Hauseingang mit der Schrift 'Bristol' auf kyrillisch, ein dicker jüngerer Mann heisst mich willkommen, es ist bis auf ein Pärchen leer, ohne Hinweis wär ich hier nie hingegangen. Ich kriege eine Speisekarte, die ich nicht lesen kann, als ich sie zurückgeben will, ein bisschen genervt, hat der Wirt grinsend schon eine englische hinterm Rücken bereit, ich bestelle Zunge mit Pilzen als Vorgericht, geröstetes Rind mit Blaubeersoße und Bohnen, Obstsalat mit surprise zum Nachtisch und esse hervorragend. Ganz entlegen, Kennern bekannt, natürlich für mich preiswert und natürlich für Normalverdienende hier sehr teuer hält sich ein Esslokal erster Klasse. Zeitlos, ohne Aufheben, ohne Konzessionen.

7 Grad plus, die Innenstadt voll junger Leute, die eine Ahnung geben, wie's hier im Sommer zugeht. Alte Männer an Zäunen, junge Paare bummelnd um den Block. Vielleicht ist Sonntag hier ja der echte Feiertag. Vor der Abfahrt doch noch Lust auf einen Kaffee oder Wodka in einem Kellerladen. Hardrock-Art-Café. Spätnachts die englische Dame des Hotels, die es sich nicht nehmen lässt, an der Rezeption wach zu sein, fragt, wann ich wiederkomme, ich sei ein angenehmer Gast.

Sonntag, 14. März 2010

Nach Süden, in den Schnee...

Wenn man allein reist, finden sich manchmal Orte, an denen man hängt, die werden für kurze Zeit ein kleines Zuhaus. Mit mehreren unterwegs rennt man daran vorbei, zu zweit bezieht man sie immer auf was Gemeinsames. In Athen auf meinen Griechenlandreisen Anfang der 70er war es ein Straßencafé kurz vorm Omoniaplatz, wo ich hinging, in Lviv ist es das Hotel George.
Ehemals Wiener Pracht, dann verfallen, wird es gerade renoviert, aber der Speiseraum ist auf. Ein großer sechseckiger Saal mit einer Oberlicht-Decke, allerdings so verdreckt, dass das Licht nur schimmert. Wahllos im Raum verteilt kleine Tische, an denen ein paar Reisende, mehr Hiesige, Vertreter vielleicht, Geschäftsleute sitzen, telefonieren, verhandeln, sich über die anderen weg begrüßen, sich was zurufen, aufstehen, rauchen. Essen tut hier niemand. An einer Längsseite ist ein Tresen aufgebaut mit einem Samowar, einer Espressomaschine, einem Zapfhahn, einer Kühltruhe für Getränke und einer kleinen Kuchentheke. Dort stehen zwei, drei junge Kellner, meist im Gespräch, manchmal kommen Schulkameraden vorbei, dann wird es lauter. Am Eingang stehen nochmal zwei ältere Herren im Anzug, die einem den Weg in den Saal weisen, den man vor sich sieht, oder den Weg zum Klo eine brüchige Treppe runter. Unten wartet eine missgelaunte Klofrau, die offenbar während der Renovierung nicht saubermacht. Ich war bestimmt 6mal im George, trinke dort Kaffee, Wasser und telefoniere, denn das wlan ist unbeschädigt, offen und stark. Niemanden scherts, was ich mache.
Weil es ununterbrochen geschneit hat, getaut, wieder geschneit, bin ich auf dem Weg zum Busbahnhof nochmal hier rein, ich kam dran vorbei, und ein bisschen graulte ich mich vor der Fahrerei. Als der doppelte Kaffee fast alle war, nochmal mails gecheckt, und ein gerade geschriebener lieber Brief von Raoulina lag vor mir, der mich aufmunterte. Und das konnte ich brauchen.

Mit dem Kleinbus 71 zum südlichen Busbahnhof, ich hatte die Beschreibung und stand mit ca. 30 anderen im Pulk an der Haltestelle. Andauernd kam einer von den Kleinbussen, die man Marschrutki nennt, aus Habsburger Zeiten, alle waren voll. Der vollste war die 71, mit meinem Gepäck völlig sinnlos, da reinzuwollen. Ich wartete einen Durchlauf ab, beim nächsten gab es ein paar Lücken, also wuchtete ich mich und den Rollkoffer entschlossen rein, rief mein Ziel "Streska", was sonst keiner tut, aber um sicherzugehn, dass ich richtig bin, reichte zurechtgelegte 2 Hryfnien nach vorn und kriegte tatsächlich 25 Groschen zurück, wie das wirklich heißt, weiß ich gar nicht, so selten kommen Beträge unter einer Hryfnie (10 Cent) vor. Das erste Mal hatte ich eine ukrainische Münze in der Hand.
Hatte bisher als Hoteltourist gelebt. Wollte das gern auch beibehalten. Man steht auf engstem Raum in den Marschrutkis, quetscht sich irgendwie durch, ruft zum Aussteigen, reicht auch von ganz hinten sein Geld mithilfe der Mitreisenden dem Beifahrer vorn, kriegt auf gleichem Weg Wechselgeld, alles ganz ruhig, viele telefonieren in dem Gedränge, man seufzt manchmal, hilft sich. Das Fahrgeld ist immer gleich, egal, wie lang man fährt. Die Marschrutkis sind privat, Verkehrskontrollen scheint es nicht zu geben, ich habe kaum welche in Lviv gesehen, die nicht übervoll waren. Auch Straßenbahnen und O-Busse, die noch billiger sein sollen und städtisch geführt sind, waren kaum mal leer. Ich hätte keine Lust, einfach so mit ihnen zu fahren, wie in Warschau z.B.

Als ich an der Endstation ratlos auf einen großen Platz schaute, alle waren schon ausgestiegen, Fahrer und Beifahrer nach dem Busbahnhof "voksal" fragte, machten beide mit tiefen Stimmen "da" und zeigten auf ein stadionartiges Gebäude. Russland-Gefühl.
Der Bus nach Ivano Frankivs'k (ab jetzt hier abgekürzt IF) war dann nicht viel größer. Und noch voller. Neben mir saß (ja, ich war früh und hatte tatsächlich einen Sitzplatz ergattert) ein heftig angetrunkener, sehr fröhlicher langer Mann aus IF, der aber in Spanien arbeitet und gerade mal hergeflogen war, um seine Frau zu besuchen. Soweit es ging sprachlich, und wenn er nicht einschlief, unterhielten wir uns und hatten Spaß. Besonders eine schicke Dame, die keinen Sitzplatz bekam und von meinem Koffer genervt war, der im Gang stehen musste, nahm er sich immer wieder vor. Aber irgendwann schliefen wir alle.
Ich erschrak, als ich aufwachend einen Wegweiser sah: IF 68 km, da waren wir schon anderthalb Stunden gefahren. Geschlingert. Selbst die Hauptstraße, die über IF und Cernivci von Lviv bis Odessa führt, ist voller Löcher, Krater eigentlich, sodass sich beide Fahrseiten dauernd Ausweichmanöver liefern müssen, man immerzu abbiegt und umlenkt, wo es doch eigentlich geradeaus geht. Dazu hält das Marschrutki, wenn jemand winkt oder drin den 'Schoffer' zu halten bittet. Der 'Schoffer' war lässig, großzügig zu Alten und Kindern, riskant beim Überholen, legte Rauchpausen ein und nahm jede Hryfnie mit, d.h. lud sooft an Haltestellen Leute zum Mitfahren ein, bis im Bus dagegen protestiert wurde - man könne jetzt wirklich kaum noch stehen. Nach knapp 4 Stunden waren wir da, für ca. 130 km keine gute Zeit.
"Wir haben Straßen gefordert, wo bleiben sie?", hat Ende letzten Jahres der Fifa-Vorstand der ukrainischen Regierung vorgehalten, denn 2012 soll ja hier die EM stattfinden. Ich kann's mir nicht vorstellen, dies ist das erste Land, das ich kenne, wo ich nicht unbedingt gerne Auto fahren würde, und das Reisen im Bus ist wohl eher eine Last.
Warum? Schon in den 70ern waren die Buslinien in Griechenland, aber vor allem in der Türkei auf einem tollen Stand, es gab Reservierungspflicht und ein gut durchdachtes Nacht-Fernbussystem, man sagte, im Gegensatz zur ungepflegten langsamen staatlichen Bahn wollten die Busunternehmer eben auch Gewinn machen. Können sie das in der Ukraine nur auf so kleinem Niveau, ohne Investitionen? Oder gilt Reisen hier als etwas Anrüchiges? Bleibt man anständig besser zuhaus? Wenn man es bequem haben will, offenbar.

Es schneit weiter. IF ist gemütlich, matschig, unübersichtlich und hat ein equisites Rathaus mit schrägen Fronten aus den 20er Jahren. Was man finden will, muss man suchen, Kleinstadt, nichts weist für einen mitteleuropäischen Fremden hier auf sich hin.

Samstag, 13. März 2010

Lemberg 2

Hier im Frühstücksraum, der aufgesetzt geschmückt, aber von eher misslaunigem Personal bevölkert und heute fast völlig leer ist, während gestern Reisegruppen aus Amerika und reiche Paare aus Russland sich bei den leckeren Rauchwürsten und an klapprigen Kaffeemaschinen drängelten, läuft die ganze Zeit eine Jammerpopmusik von jungen Frauen, die sich irgendwie alleingelassen fühlen. Unerträglich - halt: Während ich das tippe, rauscht eine Harfe, und 'Dance me to The End of Love' setzt ein. Es passt gut in die Stadt.
Cohens Art ähnelt auch diesem eigentlich hässlichen, plüschig reichen Hotel mit den vielen angenehmen Kleinigkeiten. Genau hier würde er absteigen, nachdem das George Hotel direkt im Zentrum renoviert werden muss.

Hier gib es O-Busse, die ich aus meiner Kindheit kenne. Manchmal schleichen sie im Schritttempo, die Kälte setzt ihnen zu. Eben hat ein O-Busfahrer die rausgerutschten Kontaktbügel mit einer Art Lasso wieder eingesetzt, das passierte manchmal in der Kurve in Alt-Marienfelde, als ich mit dem 32er zum Schwimmunterricht fuhr.

Es fängt an zu schneien. Ich suche ein Büro, wo man angeblich Busfahrscheine im Voraus kaufen kann, erfolglos. Heute nervt einiges, z.B. Verkehrslärm, Leute, die meine sorgsam rausgesuchten Worte nicht verstehen oder dass meine Zimmerkarte im Lift auf rot geht, obwohl ich nachgebucht habe. Wann ich denn zu zahlen gedenke? Wenn ich auschecke, wie überall sonst auf der Welt. "Sorry, but you are in Ukraine, you can buy the tickets only at the Bus Station, not in center", sagt eine junge Frau, ich halte es erst für einen Angriff auf den Touristen, aber dann merke ich, dass sie eher von ihrem Land genervt ist. Wir lächeln.

Ich suche und finde das Pinzel-Museum.
Es ist in einer römisch-orthodoxen Kirche untergebracht. Am Eingang sitzen eine Kartenfrau und ein Wachmann in zwei Einzelkabinen. Man kauft bei der Frau die Karte, zeigt sie dem Wachmann und tritt zwischen beiden hindurch.
Es gibt im dunklen Kirchenschiff ein paar Erläuterungen in Englisch, darüber hinaus ist man eigenem Eindruck oder Wissen überlassen. Es bleibt unbekannt, woher Johann Georg Pinzel stammt, in die dokumentarische Wirklichkeit trat er mit seiner Heirat. Das war in Lemberg um 1750 (genaues Jahr später eintragen, nicht mitgeschrieben).
Die ausgestellten Plastiken sind weitgehend Torsen, irgendwas fehlt immer, und hingewiesen wird auf Bauten, die er ausgestaltet hat zusammen mit einem Architekten, es gab auch Prozesse deswegen, die Konkurrenz sprach von Korruption bei der Auftragserteilung.
Jedenfalls sind es hochpathetische Stein - und Holzleiber, die hier ausgestellt sind. Meist Männer, man sieht das Muskelwerk und die Eingeweide übertrieben heftig durch die Haut schimmern. Das Sezierwissen der Renaissance ist in die Gebrauchskunst voll eingegangen. Die Spielfreude bei den Details schafft einen Übergang zu den Horrorgestalten, die ein Jahrhundert später modern werden: Hundeartige Fußzehen, filigran lange Fingernägel. Eine Frau ist vollkommen unmuskulös, hautumspannter Matsch, eine andere unglaublich theatralisch in einen Mantel gehüllt, der sich bauscht, als würde er damit eine schwierige, lange geübte und vor geheimer Bedeutung berstende Mitteilung machen wollen. Was wie ganz zufällig wirken soll, erscheint am künstlichsten. Vielleicht war's dem Künstler sogar bewusst und er bebildert die religiöse Behauptung: Es gibt keinen Zufall?
Die meisten dieser Figuren haben die Tendenz, zu feingeflochtenen Stricken zu werden. Angeblich hat jeder Fingerzeig dabei etwas zu bedeuten, eine Machart, die Pinzel von den Byzanthinern übernommen haben soll.
Ich finde, dass gerade die zerstörten Exponate zeitgemäß sind: Ein Kinderengel-Torso, dem ein Füsschen und ein Händchen fehlt, gibt ein gutes Landminen-Mahnmal ab.
Während ich Notizen tippe, stellt sich übrigens der Wachmann manchmal neben mich, weil er glaubt, das wäre eigentlich doch ein Fotoapparat und im unbewachten Augenblick würde ich das Verbotene tun und er wäre dann da, um es zu verhindern.
Pinzel wird als Meister der Psyche seiner Figuren angesehen, die sich vor allem in der Draperie ausdrücke. Seine Schüler seien dann noch theatralischer geworden und äußerlicher. (Sagt man immer gern, wenn man etwas zum Mittelpunkt macht - wenn ein Nachfolger dieser Mittelpunkt wäre, hieße Pinzels Meisterschaft 'ein erster Versuch', den dann xy vollkommen gemacht hat. Es gibt nur ganz wenig Gegenden, wo man mir sowas nicht einreden kann.) Das Foto einer 'Virgin' von Pinzel an einer Kanzel jedenfalls, halbkniend mit Flügelarmen und nackten Beinen sieht ausgesprochen phantastisch, gewagt und attraktiv aus. Frage mich, ob die entsprechende Kirche vielleicht deshalb zerstört worden ist.
Und enttäusche die Kartenfrau beim Weggehen, die vermutet hatte, jemand, der so lange bleibt, kauft dann auch den umfangreichen, für meine Verhältniss nicht teuren Bildband. Er ist mir aber zu schwer.

Ich werde auch enttäuscht: Der Trottel, der sich nicht ausdrücken kann, sagt zwar Tee, aber es gibt acht Sorten, und die, auf die er zeigt, ist irgendwie grad nicht da, da muss die Frau auf ihn einreden, ihre Kollegin kichert, jetzt zeigt er auf eine andere Sorte: auch grad nicht da, na sowas, setzen wir das Spiel doch durch alle Teessorten fort...
Das in einem Altstadtcafé, Hinterhof und geradezu romantisch verlebt eingerichtet, die Tapeten beklebt mit alten deutschsprachigen Zeitungsresten, Jahrhundertwende, eine schöne Idee, aber die Atmo so, dass der Fremde bald geht.
Das Gebäck allerdings hervorragend, Blätterteig-Rosine warm, und Tee kam dann einfach, als ich deutlich machte, die Einzelheiten wären mir wurscht.

Es ist ein bisschen wie in Breslau 1992 hier, damals galt dort der Vergangenheits-Tourismus noch als fragwürdig, unmodern, ein paar Jahre später wurde das Wurzelsuchen und Stöbern in den versteckten deutschen Spuren fast eine Mode , vielleicht mehr noch für junge Polen als für die Heimweh-Reisenden samt Enkel. Könnte hier auch so passieren, stärker noch, denn die versteckten Zeichen beziehen sich auf größere europäische Traditionen, Lemberg/Lwow/Lviv wäre ein Riesen-Puzzle der Kulturgeschichte. Erster Schritt, das Spiel anzufangen, müssten Wegweiser, Stadtführer, Gesprächseinleitungen in 'unseren' Sprachen sein, also auch mit lateinischen Buchstaben. Was kann man hier alles entdecken und suchen (danke für Gumperz' Hinweis auf die Mathematiker)? 'Unsere' Schrift wäre dazu dann erstmal Mode, bei den w-lan-Cafés fängt es jetzt schon an. Dann würde das eine Weile übertrieben werden und absurde Auswüchse haben, aber vielleicht schon die übernächste Oberschüler-Generation in der Westukraine würde sich wieder aufs Kyrillische und den asiatischen Einfluss zur Zeit der Sovietunion zurückberufen. Denn auch da kann das Wurzelsuchspiel getrieben werden, Kultureinflüsse von Weitost machen die Lebenshaltung dieser Stadt jetzt mit aus. Ob es einem passt oder nicht: Lviv wird nicht so amerikanisch sein wie Prag. Jedenfalls in meinem Planspiel.

Abends in die Oper. Der Jahrhundertwende-Bau eine Augenweide an Verzierungen, Wölbungen, Schwung-Dekors, Brüstungen, drei Stockwerke Balkone, in einem Zustand angenehmer Gepflegtheit alles, aber eben alt und nicht (wie bei uns oft üblich) in modern auftrumpfender Altertümlichkeit gehalten. Toll die Musiker in ihrem Graben vorher, spielten beim Einstimmen verschiedene gediegene Kurzwerke in Zwölftonart. Weniger mitreißend eine Direktorin, die eine Vorrede hielt, dazu ein Laufband über der Bühne mit der mehrsprachigen Bitte um Handyverzicht. Später lief das Laufband weiter mit ukrainischer Übersetzung der Texte (wenn's nicht doch Werbung war).
Carmina Burana, Balett und Chor, der leider wegen der Tänzer hinten aufgestellt und mir zu leise war. Manchmal Temposchwankungen wegen der weiten Wege, fast jedesmal nach einem Lied der Versuch, Beifall zu geben, der vom weiter treibenden Dirigenten vereitelt und einem Teil des Publikums durch leises Zischen verurteilt wurde. Aber immer wieder neu aufkam. Eine furchtbar gefallsüchtige Musik, ich kenne sie, seit ich 14 bin, jetzt ertrage ich diese Tänze und Chöre nur noch, wenn von Dark Wave Gruppen brachialisiert, denn brutal sind sie, brutal einfach, Pseudo-Volk, in einem so festlichen zweideutigen Rahmen wie diesem Provinz-Opernhaus entlassen sie allen unfreiwilligen Ekel des faschistisch affizierten Bürgertums: das Lateinische für den Studienrat, das Amouröse für den Chirurgen nebst Gattin, das Sülzige für das Hausmädchen, Pseudoinnigkeit für clevere Seelchen wie Luise Rinser, das Stampfende für den Korpsstudenten nebst Konkubine im annektierten Ausland - es mündet alles in Unterwerfung und Schicksalslob. Besatzungsoffizier Orff hat das zuwege gebracht (der sich im wirklichen Leben nicht zu blöde war, einen Ersatz-Sommernachtstraum statt der verbotenen Mendelssohn-Musik für die Nazis zu schreiben, sogar Richard Strauss hatte abgelehnt). Es gefällt, von Anfang an. Charles Ives, den ich vorgestern nacht noch im Hotel gehört habe, gefiel anfangs gar nicht, obwohl die gleiche Idee: Alte Texte, Chorgesang und Orchester, Voksweisen einkomponiert. Viel zu frei zum Gefallen ist das, man muss die Ohren dazu schräg halten, entscheiden, auf was man achten will beim Zuhören. Dazu lässt es Unteroffizier Orff gar nicht kommen. Wer nicht zuhört, kriegt erstmal eine geknallt. Scheint so, als mögen das 'ne Menge Menschen bis heute.
Aber der Schlussbeifall gilt den Mitwirkenden. Man winkt sich zu oder trinkt noch ein Glas im 1. Stock. Und später eins im Brachial-Kellerladen 'Archivo', mit orff-erledigenden Märschen im Zeitraffer, dazu ein Fussballspiel aus dem TV, kein Dezibel mehr für Gespräche, aber das schnellste offene w-lan der Stadt.

Donnerstag, 11. März 2010

Lemberg 1

Früh raus, gleich auf den Krakauer Markt.
Es geht durch die Gassen einer alten jüdischen Vorstadt, aber es könnte in jeder Richtung gehn vom Hotel. Überall ist alt, und alt ist hier nicht umweltgerecht und entstehungszeitentsprechend originalrekonstruierte Fassade, alt ist bewohnt und runtergewohnt und nichts anderes da und hält grad noch so, während Fachleute die Hände über'n Kopf schlagen und rufen, das sei eigentlich so gar nicht möglich. Also ziemlich viel Leben auf engem Raum, Straßenverkehr, der auf Intuition und Pfiffigkeit beruht und vielleicht auf mehr praktischer Vernunft, als es uns Regulierten so vorkommt. Zebrastreifen, auf denen in Polen die Fußgängervorfahrt gerade drakonisch durchgesetzt wird, sind hier ein reines Spiel mit den Möglichkeiten, die ein flinkes Wiesel und ein steifer Panzer zur Begegnung und zum Ausweichen miteinander haben. Angst hatte ich im verkehrsstrengen Lublin mehr, die Sorge um die Verletzung der schönen Autos wie bei uns noch der größte Schutz (der will doch selbst keinen Kratzer...) - dieser Schutz fällt hier allerdings weg, was für Rostlauben fahren rum, es ist nicht nur auf dem Land schlagartig ein Stück 60er, Russland, alte Welt, Realsozialismus von vor 50 Jahren, in das man reingerät, es sind die zwei Zeiten auf einmal. Nämlich auch Luxusschlitten, Off-Roader, entsprechende Gallionsmädchen vorne rechts, aber auch die ganz schicken Damen, die sich Pakete tragen lassen von ihren Packern, die sie zu sich rufen wie Hunde. Es gibt Alte, die Mülltonnen durchwühlen und Wlan-Cafés, wo ein Kaffee soviel kostet wie ein Essen mit Salat und großem Bier nebenan. Trotzdem sitzen gerade in beiden Läden gleichviel Leute, sie sehen auch gar nicht so unterschiedlich aus.

Keine Ahnung bisher, was wirtschaftlich mit der Ukraine passiert - als sie ihre eigene Währung einführten, stand diese Hryvnie gleichauf mit dem Słoty, jetzt kriegt man knapp drei Hryvnien für einen und über zehn davon für einen Euro. Was heißt, dass man als Eu-Mitgliedsmensch hier im Luxus schwelgt und merkt es kaum, was die Ausgaben angeht. Für einen Normalverdiener der Union ist das in Polen nicht mehr möglich.

Auf dem Markt angekommen, empfing mich bei den ersten Ständen gleich das wüste Geschrei einer Predigerin, die offenbar alle Umstehenden verstörte, man duckte sich vor ihr. Der Lärm fiel so auf, weil er weg war, als die Alte verschwand. Was für ein stiller unaufgeregter Markt! Voll, gedrängt, reich bestückt mit Ständen, Leuten, aber man schlendert, schaut, wägt ab, kein Verkäufer würde mit Gebrüll oder Hast mehr verkaufen. Heiterkeit, auch ganz anders als im Verkehr. So viel Zeugs, Gewürze, Fische, Haustiere, Süßes, Saures, Unnützes, Nötiges, manches unvorstellbar billig, anderes fast unerschwinglich (wie man an Gesichtern sieht), Fülle von bei uns so ganz an den Rand gedrängten Dingen, die aufzuzählen halbe Bücher postmoderner Schriftsteller füllt. Ein Markt, wie Märkte eben sind außerhalb einer bestimmten Wirtschaftsgröße des Landes.
Manchmal kommt es mir vor, als wären wir mit unsern Einkaufszentren-Normen regulierter als die früheren Staatssozialismus-Länder, und es gibt in diesen Zentren doch auch eigentlich überall nur das Gleiche. Gibt es w-lan, frage ich, ist das Nokia N 900 hier schon zu kriegen? Ich gucke nach: Ja, ist ja toll. Oder: Nein, na die sind ja hier noch zurück...

Es sitzen viele Männer einfach so in ihren Autos, warten sie auf wen, schlagen sie Zeit tot? Uniformierte mit Pelzkappen stehen auch viel herum, oder noch bunter Uniformierte mit breit ausschwingenden runden Mützen, wie man sie aus alten sowjetischen Filmen kennt, sie gehen auch gern schnellen Schrittes, die Arme hinterm Rücken verschränkt. Manche Leute in Läden, wenn ich gar nicht weiß, was ich sagen soll, sorglos und unvorbereitet und natürlich dann nicht parat habe, was Tee heißt oder halbes Brot, sind gar nicht freundlich, auch nicht mitfühlend. Wenn ich aber vorbereitet schlecht die richtigen Worte ausspreche, dann macht das nichts, das wird belohnt, wie an der Opernkasse, wo ich ein wunderbares Lächeln bekam. Gute Laune bringt's auch, und die kann man gut haben, denn wo man hingeht, war schon wer, Martin Buber, Ferdinand v. Sacher-Masoch, Stanislav Lem, Sholem Allechem, Gustav Mahler - lauter Bekannte. Aber die Fremdheit, gekommen durch die gewaltsamen Völkerverschiebungen, die macht den Motor der Stadt genauso aus. Weites Feld.

In Lemberg gilt auf eine Führung durch die Innenstadt bezogen der Satz, der manchmal in Verträgen steht, ich glaub salvatorische Klausel heißt das: Ist eins der beschriebenen Gebäude nicht auffindbar gewesen, so ist es umstandslos durch ein ebenso schönes und interessantes zu ersetzen. Es ist immer etwas da, egal, wo man hinguckt.

Mittwoch, 10. März 2010

Fahrt nach Lemberg

Am Busbahnhof. Der alte Ikarus kommt um 20 vor 11 und hängt das Schild raus Lublin Lwow. Gar nicht so 'n Gedränge wie vorausgesagt, gar nicht so viel Gepäck haben die Mitreisenden, der ruhige Fahrer will immer in Ruhe was rauchen, dann kommen immer grad Neue, deren Gepäck er verstauen muss. Gibt Telefonnummern, erklärt Wege. Ich glaube, er spricht ukrainisch.
"Madridu?", fragt jemand, von Madrid? Der Fahrer zwinkert mir zu, als eine Studentin einsteigt. Diese eleganten alten Damen im braunen Pelz, nicht nur Mantel, auch Hut, Schal und Handschuhe, alles in eins.
Jetzt eine mit glitzernder Mütze, sechs großen Paketen, Moment im Orient, ich würde mich niemals trauen das zu fotografieren. Es steigt noch einer zu, der sofort beim Fahrer sitzt, sie unterhalten sich lebhaft, wobei ich rauszuhören glaube, dass der Chauffeur ('Schoffer' sagt man) darüber seufzt, wie wenig mitfahren. Wir sind nur zehn. Der Preis wurde kürzlich von 30 auf 45 sł hochgesetzt, vielleicht lohnt der Schmuggel dann nicht mehr. Es geht zügig voran, immer mal wieder muss der alte Motor kühlen, dann geht auch die Heizung aus. Pinkelpause, einiges Gepäck eines Pärchens wird neu hinterm Motor verstaut. Kurz danach im letzten Ort vor der Grenze steigen nochmal 15 Frauen mit Marktgepäck zu und ein irendwie verschlagen wirkender Junge, es geht um den Preis, der Fahrer, plötzlich munterer, besteht auf soundsoviel słoty, die Frauen legen zusammen, es reicht nicht ganz, er schimpft.
Dann Grenze. Gravitätisch der polnische Beamte, "prosche" fordert er meinen Pass, den ich sowieso hinhalte, er geht, kommt wieder, von mir will er wissen, wohin, ich sage "Lviv", der Gesprächspartner des Fahrers wiederholt es, ich kriege mein Dokument zurück. Der Gesprächige hilft mir jetzt, in aller Eile einen Waschzettel auszufüllen für die ukrainische Seite, dort möchte man vor allem wissen, wo ich absteige, und Zöllner und Helfer sind erstaunt, dass ich die Buchung von HRS vorzeigen kann. Wie ein Streber.
Alles geht sehr schnell, keine halbe Stunde, beim Weiterfahren eine kilometerlange Schlange von Autos, die nach Polen reinwollen. Schicksalsergebenes Warten vor den Schengen-Schlagbäumen. Auf dass unsereins ruhiger schlafen kann.
Sobald die Grenze passiert ist, geht ein Geschichtenerzählen, Lachen und Schimpfen los, Polacki ist eins der Hauptworte, ich vermute stark, dass die europäische Aufgeblasenheit der Polen an der Grenze ein Thema ist, weiss ja vom ruhigen Grenzverkehr vorher, wie die Ukrainer jetzt ausgesperrt sind. Ukrainisch ist eine buntere, scheinbar schnellere, irgendwie kullernde Sprache, jedenfalls hier in der Gegend. Während ich mit meinem Helfer radebreche, schieben sich draußen Pferdefuhrwerke mit Mist beladen oder Menschen vorwärts durch Matsch und Eis und Schlaglöcher. Viele Holzhäuser hier, zu meiner Beruhigung sind die Ortsschilder zweisprachig, kann ich also noch lernen. "it's a problem in the head" sagt mein Gesprächspartner gern, er ist Tierarzt und kommt von einem Kongress aus Posen zurück, die ukrainischen Menschen seien in Ordnung, nur die Führung in Kiev (er sagt 'Kiuh, das v=u, klar, auch Li-u statt Lviv), die sei noch postkommunistisch und schlecht, die habe die Umstellung nicht auf die Reihe gekriegt, "problem in the head, you know?" Und sie arbeiteten immer noch Moskau zu. Er lacht viel und gern. Wiederholt sich oft, ein kleiner agiler vielleicht 35jähriger. Kinder hat er keine, ich erfinde noch eine Tochter dazu, er ist fast gerührt.
Als an der Grenze der ukrainische Zöllner wiederkommt, bricht er eine Spottrede auf seine Regierung (auf englisch) mitten im Wort ab, sagt keinen Ton mehr, bis der Beamte raus ist. Ich versuche das Gespräch zu erweitern mit: wer ist gutfreund mit der Ukraine. Norwegen, erfahre ich, Litauen, Portugal, Holland, Deutschland eher nicht, weil wir uns zu dick mit den Russen machen, und Frankreich nicht wegen irgendeiner Nähe zu den Moslems. Eine seltsame Weltsicht, die für mich noch weniger durchsichtig wird, als der Mann irgendwann auf seine Zeitung zeigt und sagt: "polish newspaper, polish jewish newspaper, good Information, but...", macht eine wegwerfende Bewegung dazu. Polnisch-jüdische Zeitung? Als er aussteigt, ist er mir eher ein Rätsel geworden. Wir verabschieden uns herzlich.

Lviv dann ein brodelnder Vorabendkessel, ich greife das Gepäck, tausche Geld und suche mich ohne Stadtplan zum Hotel. Das liegt erhöht an einem Park, mein Zimmer im 9. Stock hat Blick über die ganze Altstadt. Begeistert.

Dienstag, 9. März 2010

Splitter

Die Unsitte im polnischen Fernsehen, Filme, statt sie zu synchronisieren oder mit Untertiteln zu versehen, miterzählen zu lassen von einem Sprecher, während leise der Originalton drunterliegt, es hat etwas unsäglich Bräsiges. Üblich ist auch noch eine onkelhafte, vom Geschehen draußen ganz unberührte Stimme, sie gemeindet jede Fremdheit in eine Gemeinschaft ein, die es ohne die Verschandelung gar nicht gäbe. Skrupellos. Dass sich vielleicht jemand bei den Tonspuren was gedacht hätte: Scheiß drauf. Dass die Schauspieler mit ihren Stimmen als Instrumenten arbeiten: verzichtbar. Mich erinnert das vor allem an selbstgefälliges, völlig genügsames Gequatsche einiger 'scharfer Köpfe' bei uns, die ihren Anhängern was vom Pferd erzählen über die verrückte, aus den Fugen geratene Welt, in der sie sich natürlich auskennen und leicht und mit Witzigkeit gut und böse, blöde und schlau auseinanderhalten - schlau ist sowieso schon mal klar.
Das hat etwas so platt Tröstendes. Kann mir vorstellen, dass viele Polen die Filme nicht mehr anders sehen wollen, man wäre ja ganz allein gelassen ohne den Onkel, der sagt, wo's lang geht.

Zum zweiten Mal erschrocken, wie nah das Lager Maidanek bei der Stadt liegt. Wie ein übergroßes Sportfeld. Man muss doch die Schüsse gehört haben, Schreie, oder lief es ganz lautlos ab? Wenn man gewollt hätte, hätte man - wie heute.
In der Eiskälte lief ein Wachmann immer parallel mit mir mit, denn ich hatte einen Seitenweg ins Gelände gefunden, der nur aus Versehen offen war. Tat so, als würde ich den Wächter nicht hören, ging bis zur ersten Baracke, wieder zurück, und weil er nicht übers freie Feld rennen wollte oder durfte, traf er mich erst am Ausgang, den er hinter mir laut verriegelte. Montag Ruhetag.

Kurz im Gespräch gestreift: Der Hitler-Stalin-Pakt. Dass Polen ängstlich wird, wenn sich Deutschland und Russland verstehen. Die nicht beendeten Großmachtträume Russlands. Putins Berater Dugin, in Herbert Ulrichs Worten "sehr ökologisch, agrarisch, Machtmensch, antiamerikanisch, antijüdisch, angeblich russisch-orthodox, in Wirklichkeit ein praktizierender Sufi-Mönch." Auch Gorbatschow (Dorota spricht ihn wie alle polnischen Wörter auf der vorletzten Solbe betont aus: Gorbàtschow) sei Esoteriker gewesen, noch mehr seine Frau Raissa, "na, wenn's ihn locker gemacht hat..."
Warum so viele russische Künstler für Putin schwärmen, eine bekannte Jazzerin weiht U-Boote mit ihm ein und nennt ihn den neuen Zar, ich erwähne in dem Zusammenhang Kaminer, wenn auch die Verehrung, dem Stil des Verehrers angemessen, hier ein bisschen ironisch gebrochen ist. Aber warum? Ich sage: "Geld und Macht winken." Herbert sagt: "Nein, sie glauben daran." An ein Neues Russland, oder was?

Am Busbahnhof. Der alte Ikarus kommt um 20 vor 11 und hängt das Schild raus Lublin Lwow. Gar nicht so'n Gedränge wie vorausgesagt, gar nicht so viel Gepäck die Mitfahrer bisher, der ruhige Fahrer will immer in Ruhe was rauchen, dann kommen immer gerade Neue, deren Gepäck er verstauen muss. Gibt Telefonnummern, erklärt Wege. Ich glaube, er spricht ukrainisch.
"Madridu?", fragt jemand. Der Fahrer zwinkert mir zu, als eine Studentin einsteigt. Diese eleganten alten Damen im braunen Pelz, nicht nur Mantel, auch Hut, Schal und Handschuhe.
Jetzt eine mit glitzernder Mütze, sechs großen Paketen, Moment im Orient, ich würde mich niemals trauen das zu fotografieren.

Blumen

Viele Männer eilen hier grad mit einem Blumenstrauß nachhaus, viele Frauen an der Haltestelle halten eine Stielblume in der Hand, der Frauentag ist auch In Polen nicht abgeschafft, im Nachbarland nach Osten sogar immer noch Staatsfeiertag, "sie mussten ja was einführen, nachdem sie die Kirchenfeiertage abgeschafft hatten", meint Herberts Frau Dorota dazu. Von Clara Zetkin weiß hier niemand was?
Trotzdem auch mein Gruß landauf landab an dieser Stelle, eigens nochmal an den Hotspot zurückgeeilt bin ich -

Montag, 8. März 2010

Lublin 3

"Das schale Bauholz des Nichts", lese ich bei Bruno Schulz. Lesemorgen, will 'Das reiche Land der armen Leute' noch zurückgeben, eh ich fahre, eine Sammlung mit Geschichten aus Galizien, über Jahrhunderte weg, aus verschiedensten Gruppen und Klassen, huzulische Naturgeistsagen neben Lob der belesenen Armut der Schtetl-Juden (Manes Sperber), k.u.k.-Adligen-Satire (Sacher-Masoch), Massaker von ukrainischen Landarbeitern an polnischen Junkern (Messenhauser), eine wunderbare Geschichte seiner Geburt von Alexander Granach, und und...
Wie sie alle die Peripherie betonen, die von Galizien erzählen, Randexistenzen, aber wie dieser Rand dann doch ein geheimes Zentrum war - als hätte sich der Stoff einer Jacke umgestülpt und man trägt plötzlich das Innere außen. Friedlich war es ganz sicher nicht, am ehesten hier, wo ich grade noch bin, in Lublin soll es den Hass zwischen Ruthenen (=Ukrainern) und polnischem Adel nicht so gegeben haben, weil hier allen ihr Auskommen blieb, und die jüdische Stadt war zu etabliert und erfolgreich für Progrome. Aber wo ich hinfahre, von Lemberg an, war die Buntheit wohl mehr eine Decke, unter der man sich gewärmt hat, die aber einfach runterfiel, wenn die Gegensätze zu heftig wurden. Die sicher, da sind sich die Autoren einig, ohne sich zu kennen, nicht aus unterschiedlichem Glauben gekommen sind, sondern aus dem verschiedenen Verhalten der Armut, dem Besitz, den Herausforderungen des Mangels gegenüber. Da hat jede Gruppe ihre Tricks und Ohnmachten gehabt und nicht gewusst, welchen Platz im Spiel sie eigentlich einnahm. Denn drunter lief ein Geflecht aus machtpolitischen Plänen, die meistens trotzdem gescheitert sind. Hätte die Mehrheit der Menschen es gekannt, kennen wollen, wäre Schwäche vielleicht sofort zu Stärke geworden. Was es da alles an Möglichkeiten gegeben hat!

Lesen, manchmal reden, Atem holen, gerade geht so der Tag. Ein bisschen Organisieren auch, wenn es zuviel werden sollte, will ich umdrehen.
Wie zumindest der Faschismus hier die alten Gegensätze aufgespürt hat und so getan, als wolle er die Untersten befreien, um (mit ihrer Hilfe und danach sie) zu vernichten, das wird mir langsam klar. Als reine Eroberer kamen diese Deutschen nicht. Die Soldaten und Kommissare des anderen Riesenbefreiungsblocks wohl schon eher. Ob sie das selber wussten, waren sie deshalb ehrlicher? Wird eine Weile brauchen, davon ein bisschen mehr zu verstehen - oder die Augen erschöpft zum Himmel und: "Schales Bauholz des Nichts"...

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