Freitag, 11. Juni 2010

Splitter Odessa 1

Der erste Mann mit Kippa auf dieser Reise.
Tag später noch einer, ich geh ihm nach, wohnt tatsächlich im alten Judenviertel. Lese, die Hauptsynagoge ist seit den 90ern wieder in Gebrauch.

"Nobody has right to judge me only God" hat ein junger Mann am Strand auf den Rücken tätowiert. Also auf lange Sicht: Keiner.

Bettler, die singen, laut, klar und à capella. Einer schob sich gestern nach einer kleinen Vorrede singend durch einen überfüllten Bus, ich konnte ihn von meinem Sitz aus nicht mal sehen. Wer kann ihm was zugesteckt haben?

Auf der Fahrt zum Bahnhof Lemberg Indiz, dass die klapprige Straßenbahn aus Deutschland dort hin kam. "Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen" steht verblichen zwischen neueren kyrillischen Aufklebern. Weitere Recherche lässt vermuten: Aus Westdeutschland. "...erke Iserlohn" lappt unter frischeren Aufschriften beim Fahrersitz. Stadtwerke? Lasse die Nachforschung, es ist missverständlich, wenn ich mich über den Fahrer fast rüberbeuge.

Fahrt vom Strand weg, wo eine Kopftuchalte den Fahrkartenverkauf übernahm mit einer so unangenehmen Stimme, so herrisch-dawei-dawei-zusammenschiebend, dass jeder sich kugelig klein machte, demütig von vornherein schon; an einem Umsteigepunkt, wo eine Mutter sich offensichtlich weigerte, von der Tür weg ins Wageninnere zu treten, riss sie einfach deren kleine Kinder mit sich fort, die Mutter stolperte fassunglos hinterher. Ich musste an Stalins Vertreibungspolitik senken.

Auf dem Pryvozmarkt - neben unzählig anderem - zwei Fischhallen. Eine unter Rohbaudach ohne Außenwände und Verglasung, hunderte Stände mit Fisch vom winzigen Garnelchen bis zu Riesenflunder, Hai und Schwertfisch, alles in Haufen mit Frauen davor, die rauchen und mechanisch mit Blätterwedeln die Fliegen verscheuchen, was natürlich aussichtslos ist. Stundenlang. Hier laufen auch hunderte Kunden herum, trotzdem hab ich den Eindruck, es wird eher spärlich gekauft.
Daneben der andere Markt im festen Haus: Klare Stände, abgegrenzt und mit Strom versorgt, hier liegt die gleiche Vielfalt von Fisch in weniger Menge auf Eis, wird mit Handschuhn bedient, gibt es alle paar Meter Karren mit frischem Wasser und Heißgetränke. Die Preise sind mehr als doppelt so hoch, die Kundschaft viel spärlicher. Aber wer hier hergeht, der kauft, glaube ich.

Noch nirgends hab ich so viele Off-Roader gesehn wie in Odessa. Und selten so viele Bettler bzw. Anbieter von irgendwas. Ich bin ja nicht so viel rumgekommen. Es fällt auch nicht so auf, weil hier alle darauf achten, dass sie einigermaßen sauber gekleidet sind, irgendwie europäisch geschniegelt, egal, wie's ihnen geht. Nur die Reichen zeigen sich ungern: Ein Superschlitten muss so tief getönt sein im Glas, dass man nichts drinnen sieht, kein Stäubchen. Damit es siffiger sein darf als im Zimmer des Bettlers?

An der Potomkinschen Treppe bietet mir ein Verkäufer erst Postkarten, dann Kaviar ("20 €" - "No" - "10?" - "No" - "5!" - "-" - "Fuck you") an, dann so schlecht gefälschte Euroscheine, die ich irgendwie einwechseln soll, dass ich laut auflachen muss.

Nein, Hytapiyc heißt nicht Kramladen, sondern Notarius, wie ich endlich begriffen habe; genauso, wie ich mich nicht mehr wundere, dass es in Warschau, Lemberg, Odessa so viele Rektorate geben soll, auch ganz kleine, für welchen Fachbereich denn? Es hat gedauert, bis ich da einfach reinging und was zu essen bestellte, als ich Hunger hatte.

Immer blöd, wenn man Sitten nicht kennt, zu Fasching ohne Verkleidung, zum Polterabend ohne was zum Zerdeppern kommt. Ins Schlafwagenabteil bringen die Ukrainer flauschige Trainingsanzüge bzw. Topps mit, sie stehen erst zwei Stunden am Fenster oder essen platzgreifend im Abteil, dann erst zieht man sich um, einer nach dem andern, klappt die Betten runter, bezieht im Handumdrehn die schmale Pritsche, dreht sich zur Wand - und schläft noch lange nicht. Erst wird noch telefoniert. Dann wird der Zug wohl grad halten, klagend wird eine Ansagerin einen langen Sermon verlesen, woher, wohin, wozu und warum nicht (es klingt jedesmal wie die gleiche Stimme, vielleicht die ukrainische station-voice im Wortsinn). Als sich unser Zug schließlich in die Nacht schob, Kühle kam, sah ich ein kleines Bauernhaus mit Bank davor langsam vorbeiziehn (wir fuhren für 780 km 12 Stunden) und dachte: Warum bist du Idiot jetzt nicht in Lunow?
Irgenwann nachts wurde ich wach davon, dass die Klagestimme von Marschmusik abgelöst wurde nach jeder Ansage. Treibende slawische Marschmusik. Das machte alles ganz festlich. Wüsste den Bahnhof gern.

kwerblock

maurenbrechers betrachtungen

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

aus Lublin
Lieber Manfred, wir haben ja nun schon lange nichts...
Herbert Ulrich - 23. Feb, 11:36
Wilmersdorf
Wie das schon klingt! Keine Blumen in den Parks, trostlos,...
kapuziner - 4. Jun, 18:32
Roman haben wir leider...
Roman haben wir leider genau so wenig besucht wie die...
quer - 4. Jun, 14:01
31.5.-3.6.
Die erste Autofahrt mit dem eigenen Führerschein, die...
quer - 4. Jun, 13:45
Na, wieder zu Hause?...
Na, wieder zu Hause? Wie war denn der Gesamteindruck?...
Herbert Ulrich - 3. Jun, 14:51
29.5.
Ich hätte gezaudert, Kristjane wollte es gern, also...
quer - 1. Jun, 11:33
27./28.5. Czernowitz...
27./28.5. Czernowitz - wie letztes Jahr fuhr der Busfahrer...
quer - 28. Mai, 22:45
24.-26.5.
Zwei Ausflüge in die Bergwelt, sie hängen zusammen...
quer - 26. Mai, 22:20
23.5.
An einem klaren warmen Morgen am gedeckten Frühstückstisch...
quer - 23. Mai, 20:59
das find ich aber auch,...
das find ich aber auch, lieber Herbert... Brom nächsten...
quer - 23. Mai, 19:36

 

eXTReMe Tracker

Alle Links in Popups öffnen

alle Links auf der aktuellen Seite in einem neuen Fenster öffnen 

Suche

 

Status

Online seit 5857 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 30. Mai, 11:34

Credits


Reisen
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren