Dienstag, 23. März 2010

Cernivci 1

Dritter Tag in Cernivci. Ein Herbsttag, gestern war Frühsommer, vorgestern Vorfrühling. Jedesmal eine andere Stadt.
Im Vorfrühling hielt der Landbus noch am anderen Ufer des Pruth direkt am Riesenmarkt, also völlig entgegengesetzt zum Busbahnhof, und weil ich keine Ahnung hatte, ging ich der Straße nach wie im Reiseführer beschrieben. Über den grauen Fluss, durch schmuddelige Vororte, in denen langsam alte brüchige Hochhäuser wuchsen, dazwischen Holzhäuschen im Bauernstil, einmal ein richtiges Hexenhaus aus Blech, vor dem eine sehr zerzauste rauchende Hexe einen Schwall Eimerwasser ausgoss. Die alte Stadt sah man immer mal oben am Berg, und irgendwann auf einer Brücke sah ich auch den Bahnhof, da wusste ich, dass ich völlig woanders war als angenommen, im Norden nämlich - ausgeschlossen, von hier aus zum Hotel zu laufen.

Selten unfreundlichere, inflexiblere Schalterkräfte erlebt als die zwei Damen, die mir nach zähen Verhandlungen einreden wollten, zwischen Czernowitz und Lviv, an einer Hauptstrecke also, würden an einem normalen Wochentag nur zwei Züge verkehren, und zwar einer um 4 Uhr morgens und einer 23 Uhr 19. Und die würden jeweils 8 Stunden 30 brauchen für 290 km. Wahrscheinlich hatten sie sogar Recht, und der prächtige Bahnhof von 1900 ist nur eine Utopie ins Vergangene, was Weltanbindung, schnellen Transport und vielsprachigen Umgang miteinander angeht.
Wie selbstverständlich freundlich dagegen die Atmo im Hotel Bukovina, in das ich mit dem O-Bus fuhr, zum ersten Mal ein städtisches Verkehrsmittel, 7 Cent Kosten, zum ersten Mal der hiesige Dialekt, der die mittleren Vokale dehnt wie ein Triller einen Ton: Ghotel Bukowjienna, ya Larrjissa. Sozialistischer Langbau mit klapprigen Fahrstühlen, schwankendem w-lan, plüschigem Restaurant, aber einer freundlichen Bar und fittem Rezeptionspersonal, das die Wünsche polternder ostukrainischer Handballmanager genauso gut befriedigen kann wie die verstrubbelter deutscher Stadterkunder oder mit Handspiegel bewaffneter dauertelefonierender Assistentinnen.

Czernovitz, mehrere Städte in einer, am blauen Rathaus steht in neuer Schrift das alte Habsburg-Motto 'viribus unitis', gemeint ist jetzt wohl die vereinte Kraft aus Industrie, Handelszentrum, Unistadt und Traditionshort. Hier gibt es immerhin noch oder wieder eine jüdische Schule, ein Institut bukowinischer Schriften und Biografien, Stiftungen, die mit dem Kulturerbe umgehen, Forschungsaufträge, die die Stadt der Zukunft zuwenden. Architektur und Namen, damit kommt und erschlägt einen die Stadt, wenn man nicht aufpasst.

Erster Spaziergang nach Dusche und obligatem Telefonieren aus der Halle, ein kleiner Platz Richtung Innenstadt, gerade mal die Jacke ausgezogen, Blick auf ein unauffäliges Denkmal: Es gilt Paul Celan. Er hat viel besser, auch höher im Ort gewohnt als Rose Ausländer, als sie Kinder waren, stelle ich später fest.
Czernovitz ist auf (7?) Hügeln gebaut. Auf einem Bild im jüdischen Museum wird die Analogie zu Jerusalem gezogen, aber wo nicht? Selbst in Mannheim.
"Cernovitz, auf halbem Weg zwischen Kiev und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas. Wo die Bürgersteige mit Rosensträussen gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien." So steht es auf einer Tafel am Kunstmuseum ohne Zitatangabe.
Als Hauptstadt der Bukowina war dies die habsburgische Stadt, in der Juden alle Rechte hatten, die andere Bewohner auch genossen - so habe ich es verstanden. Wie im Selbstlauf entwickelte sich ein hochtouriges kulturelles Leben, hier gab es eine Weile die meisten Zeitungen überhaupt an einem Ort (über 100?), Verlage, Dichterkreise, Theater, ab 1875 eine Uni. 60% der Bevölkerung waren jüdisch. Aber es muss auch die andere Bevölkerung gegeben haben, die vom Land kam, es gab von hier ausgehend immerhin auch die Chassidim-Bewegung der Juden, die die städtische Assimilation an das europäische Leben samt Verweltlichung ablehnte. Ein Haupt-Chassidim-Guru Israel Friedmann, dem man Charisma, Lebensweisheiten und Wunderheilungen nachsagt, führte auf einen Hügel neben der Stadt in Saradoga vor 200 Jahren ein Leben in Saus und Braus, während seine Anhänger darbten. Ist er ein Urahn des Namensvetters? Gab es in seinem Hofstaat auch einen Wadenbeißer, der Broder hiess?
Die kleinen ländlichen Häuschen blieben jedenfalls mitten in der Stadt Jahrhunderte stehen, sie sind die Stadt zusammen mit den k.u.k.-Prachtbauten, man findet immer noch ganz viele davon, ebenerdig oder einstöckig, klein, windschief, bescheiden, neben der prächtigen Hauptpost, den prallen Kirchen, Hotel Bristol, jüdischem Haus, deutschem Haus - das relativiert die Rede von der heimlichen Hauptstadt ein bisschen, finde ich, der Wille zum Klotzigen war hier wohl immer gebrochen, die Neigung zum Ländlichen nicht loszukriegen (vielleicht auch zum Sterngucken), und vielleicht ist es kein Zufall, dass sich in dieser Stadt eher Lyriker entwickelten als Systemtheoretiker, Staatsführer oder Konzerngründer.
Auf einem Kongress 1908 sollte die jiddische Sprache hier als Verkehrssprache der Juden eingeführt und international anerkannt werden. Professor Natan Birnbaum hielt eine Eröffnungsrede, die er sich erst ins Jiddische hatte übersetzen lassen müssen, weil er es gar nicht sprach. Trotz mehrheitlicher Zustimmung tat sich nachher nichts Internationales für das Jiddische.
Cernivci ist das Gegenteil eines Museums. Die paar Museen wirken eher wie Nischen, in denen ein bisschen Ordnung gemacht wurde. Vom O-Bus aus sah ich den Hügel hoch vom Rathaus weg im Vorbeifahren eine Flanierstraße, die Sorte Straße, auf die man sich sofort freut. 'Herrengasse' hiess sie früher, hier spielt auch heute das abendliche Leben, sehr russisch für den Laien - Tanz, Suff, Flirt, Musik, aber nicht wie in Lviv noch unter dem Schirm internationaler Zeichen und Ketten. Dafür stehen fette Karossen am Strassenrand, sogar die hässlichen Hummer sind dabei, manchmal sieht man ihre Besitzer (oder deren Chauffeure?) mit Pinselchen sorgenvoll Lackschäden ausbessern. Die Polizei macht in alten Ladas Kontrollen und winkt immer die genauso Bescheidenen raus, als wenn sie sich anders nicht trauen. Mich hat ein wildgewordener Offroader vorm Hotel jedenfalls fast erwischt (Racheversuch über Länder weg).

Im jüdischen Museum ein Brief eines Rabbis aus Wishnitz von 1908 an eine hohe Behörde in Wien mit der Bitte um Unterstützung von Hassidim in Palästina. Was ich gar nicht wusste: Während der rumänischen Zeit der Stadt gab es starke jüdische Jugendgruppen, die die Auswanderung propagierten. Der europäisch orientierte Teil der Mittelschicht hielt dagegen. In Rumänien war das Klima gegen die Juden schon härter, aber alle Zeitungen erschienen noch. Das Schiller-Denkmal vor dem Theater wich einem für Mihai Eminescu, der auch hier geboren ist, jetzt steht da eins für die Dichterin Ol'ha Kobyljans'ka.

Jetzt ist der Theaterplatz einer der Treffpunkte. Ein playbackbewerter Gitarrist bluest vor sich hin, zwei schwer Angetrunkene rufen was zu den wartenden Polizisten, die nach nicht gut Kirschen essen mit aussehen, beim dritten Mal greifen sie zu, und der festgehaltene Trinker beschimpft sie, ich verstehe Russki und Sowietski, Vasallen des Gestern also. Auf die kleine wartende Menge wirkt das nur müde. Die meisten greifen gleich wieder zum Telefon.
Man kann in größter Enge stehn oder Kälte oder es ist tierisch laut: telefoniert wird immer. 30 Hryvnien, sagt Anna, zahlt man im Monat und hat das Inland frei. 2,90 €. Was für Gewinnspannen bei uns. Man erkundigt sich nach einer Ware, telefoniert dabei und klaubt noch geschickt das Wechselgeld vor. Der Mann, den ich auf dem riesigen jüdischen Friedhof nach etwas fragte,war nicht etwa, wie ich befürchtet hatte, verärgert wegen Missachtung der Totenruhe, sondern genervt, weil er telefonierte. Aber nur ein bisschen - eine Kleinigkeit, so eine Auskunft und so ein Gespräch zusammen zu erledigen...

Ein ziemlich unscharfes Foto von 1941 im jüdischen Museum zeigt eine große Zahl Menschen an einem Ufer. Crossing The River Dnister to Transnistrien steht darunter. Es wirkt wie ein großer Ausflug, die Menschen sehen gesund aus, ein bisschen besorgt manche, andere abweisend, manche baden, andere beten.

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