Samstag, 12. Juni 2010

Überm Meer

Nach Jahren mal wieder: überm Meer, Wasserskirasende vor mir, wegspritzende Schwimmer, tiefbraun Ausdauernde und die Faustballspieler barfuß im Sand, hinter mir der Musikbrei, der an allen bevölkerten Stränden der Welt animiert, "say you want, say you need", man hört die Musik sofort dazu, es ist weit außerhalb, schemenhaft sieht man am anderen Ende der Bucht Hochhausdunst. Odessa ist richtig groß, war nicht nur der südlichste, auch der größte Hafen der Sowietunion.

Vom Hafen aus gelaufen, erst durch Verwaltungstrakte, dann verspielte Parks, Wohnblocks, durch ein Volksparktor, und von sozialistischer Ordnung mit begrenzten Ausblickbänken aufs Hafengelände ging es auf immer breiterem Weg mit immer mehr Flaneuren auf eine Strandpartie zu, wo kein Halten ist, Buden auf Buden, Grill und Tätowierung, Delfinarium und Muskelkunstwerker, Ponyreiten und Disko natürlich und Karaoke, und Fisch Fisch Fisch. Sogar Sushi. Das Wasser, so nah am Hafen, echt schmutzig, wenn man genauer hinschaut.
Ich nahm ein Elektromobil von dort. Zum Strand 'Arkadien', dachte, das liegt nebenan und war etwas pikiert vom Preis, 25 Hryfnien, 2,70 € jetzt (im Februar wärens 2,30 gewesen). Als der Stecker des Fahrzeugs aus der Dose gezogen wurde, kriegte jeder von uns eine Orangade in der Tüte gratis, daran sah ich schon, es würde eine lange Fahrt sein - zwanzig Minuten bergauf, bergab, an Skatern vorbei und Joggern, durch Schranken, die sich mit Zauberhand öffneten, an Badeplätzen und Lokalen,wo ich gern ausgestiegen wäre, aber Arkadien war noch weiter. Als kurz vorher eine Oma mit Enkel aus - und zwei 12jährige Mädels einstiegen, die immerzu den Refrain eines eben gehörten Schlagers nachsangen, hoch, tief, schräg, richtig, aber andauernd, da war klar, Arkadien ist für jeden was anderes. Während am Einstiegsstrand ein Abenteuerrummel aus vergangener Zeit zerstört am Wegrand liegt, durch einen Zaun abgetrennt, aber sichtbar (die halb verbrannte Geisterschiff-Wippe), romantisch sichtbar, funktioniert hier in Arkadien alles. Hochelektronisch ferngesteuerte Geisterwelt. Ein Wachsfigurenkabinett. Nightclubs. Eine Bühne mit hochamtlicher PA und Lichtversorgung. Hotels. Diskos. Ich wette, eine Kirche gibt's auch. Bin an die höchste Stelle geflüchtet, esse zum offensichtlichen Ärger des Chefkellners nur einen kleinen Gemüsesalat. Er gibt den Ärger in Form einer Rechnung, die in einer Art Riesenkübel versteckt wird, an eine Untergebene weiter. In vielen Lokalen hier steht ein Schwarm von Dienstleistenden herausgeputzt in Schlange oder Klüngel bereit, den Kunden zu bedienen bzw. Arbeit zu delegieren. Die Ware Arbeitskraft ist hier billig. Das Geld auf meine Rechnung nimmt eine Kellnerin entgegen, die den Riesenkübel am Ende wieder dem Chefkellner reicht. Jetzt muss das Restgeld zurück, dazu schickt er wieder eine andere los. Der lege ich wie nebenbei einen kleinen Schein beiseite, sie schaut mich an und traut sich nicht, das Trinkgeld zu nehmen. Schon ist der Chefkellner wieder da, wittert herum und nervt mich damit so, dass ich einfach gehe.

Ich war angekommen und gleich ein bisschen genervt von Odessa. Deshalb am Strand gelandet. Eine sofort begeisternde Stadt, das ja, aber künstlich, malerisch überall, komponiert, die Schachspieler in den Parks gehören dazu wie die halbnackten Damen an den Militärfahrzeugen der Reichen, die Sonnenbader (jetzt in der Gluthitze eher: Sonnenflüchtlinge, Schattenbader), alten Geschäftsleute, wunderlichen Bettlerinnen - alles im Verdacht einer Inszenierung.
Zum Beispiel gibt es nirgends Tourismusbüros, die Stadtführungen anbieten, Rundfahrten (erst am 3. Tag hab ich so was doch noch entdeckt): Man ist drin, und jetzt muss man in dem Theaterstück eben zurechtkommen. Das natürlich auch Mängel hat: Ursprünglich sollte man ja die Stadt Odessa vom Hafen aus betreten, deshalb die Treppe, man stieg sie in das künstliche neue Paradies der Grafen Potomkin und Richelieu empor - auch nach Arkadien also. Heute kommen aber fast alle vom Bahnhof oder Flughafen, also von oben, arbeiten sich vor bis zu den Palästen hoch überm Meer, schauen an der Treppe runter - und auf ein riesiges Allerweltsluxushotel im Hafen, das direkt den Blick in die Ferne versperrt (500 Dollar die Nacht lässt mich später eine Einheimische wissen). Das hätte nicht sein sollen, das unterbricht das Schauspiel!
Ich bin ja dankbar für solche Fehler. Freue mich an rostigen Schiffen bei der Hafenrundfahrt später genauso wie an den springenden Delphinen, die wie aufs Stichwort um unser Boot hüpfen. Die einzigen in Bewegung an diesen heißen Tagen, so scheints.
Ob die Ruhe in dieser Stadt, von aggressiven Kampfautofahrern und betrunkenen Nachtbummlern abgesehen, eher am Wetter oder der Mentalität liegt? Im (etwas russisch-neureichen) Hotel Odesski Dvorik, wo ich abgestiegen bin, schlägt das Abgehangene im Umgang mit dem Gast sich eher in Schlechtgelauntheit nieder, die hier vielleicht weltmännisch wirken soll - auf einem vier Straßenblocks großen Trödelmarkt, auf dem ich heute Mittag war, wirkt diese Ruhe wie weise. In Berlin nicht, noch weniger in Athen oder Istanbul würden knapp tausend Menschen, die verkaufen wollen, so still vor dem Mitgebrachten hocken, Kleidung, Werkzeug, Tiere, Blumensamen, manche nur einzelne Kacheln oder Würzelchen aus dem Hausgarten dabei, andere Berge von irgendwo herbeiorganisiertem Zeugs. Man spart sich einfach den Lärm. Man ist ja sowieso da. Großartig. Beneidenswert. Ob man das lernen kann?
Jedenfalls habe ich hier seitdem Hemd und Hose für 3,50.

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