Dienstag, 15. Juni 2010

Chisinau 2 - Parktag

Ich sitze im bezaubernden botanischen Garten, für 33 Cent kann man hier über Wiesen, zwischen kleinen Teichen, durch Wäldchen hin und her, man kann ausruhen, Sport treiben, angeln, flirten, im Gras liegen - zwar habe ich Lehrbeete bis hier zu der Bank am Wasserfall nicht bemerkt, irgendwo wird es die wohl auch geben.

Chisinau ist auch eine Freizeitstadt. Wegen immer weniger Industrie und den vielen Parks hat es eine hervorragende Luft. Auch zwischen den Regierungsgebäuden im Zentrum sind Parks, an der Grenze zum Remmidemmi, sichtbar bewacht von schwarz uniformierten Polizisten, die schon mal einen Bettler entfernen, er muss dann aber laut geworden sein. Auch Großleinwände gibt es jetzt dort, wegen der WM, sogar ein kleines Schwimmbad mit genauen Regeln, in dem man für 50 Lei 45 Minuten seine Bahn ziehen darf. Das ist teuer, auch die Esslokale drumrum nehmen wahrscheinlich mehr, als sich eine Quasverkäuferin draußen auf der Straße leisten kann. Quas ist russisch, eine Art Malzbier, eiskalt sehr erfrischend, angeblich ohne Alkohol, aber ich wurde davon so müde, dass ich vorsichtig geworden bin.

Chisinau ist auch eine Stadt zum Feiern. Auch die Hügel hoch in den Neubauvierteln überall Cafés, Buden, Clubs. Weniger Kinos als Theater, so mein Eindruck. Vielleicht deshalb, weil Theaterspielen billiger ist als internationale Verleihe zu bezahlen. Es sei denn, sie lassen sich auf den Markt hier ein: McDonalds wirbt damit, dass sein Burger 10 Lei kostet, 65 Cent, in der Ukraine kostet er fast das Doppelte. Umgekehrt Busse und Bahnen, hier praktisch doppelt so teuer wie in der Ukraine, nämlich 2 Lei die Fahrt statt 1 Hryfnie, dementsprechend angenehm wenig besetzt sind viele Wagen. Es wird dann wohl mehr gelaufen... (gerade eben war im O-Bus zum Park eine ganz erregte Diskussion, die auf immer mehr Fahrgäste übergriff, weil die Schaffnerin eine alte Bäuerin offenbar umsonst mitfahren ließ. An der Endhaltestelle griff das dann noch auf Fahrer und Schaffnerin über).

Viel Bäuerliches in Chisinau, Kleidung, Gehabe, auch der Protz etwas weniger gekonnt als in Odessa.
Als ich gestern abend im leichten Regen (endlich mal) in ein vom Hotel empfohlenes Restaurant kam, war es kurz vor halb zehn, ich sah gleich, ich war der einzige Gast, aber Musik lief und eine junge Sängerin sang. Ob ich nicht wisse, dass sie alle nur bis zehn Uhr arbeiten, wurde ich auf Englisch gefragt. Nein, wisse ich nicht, ob ich denn noch was zu essen bekäme. Die Frage wurde auf moldawisch weitergereicht, der Unmut in den Gesichtern blieb eine halbe Minute, dann entschied eine junge Frau "da", und alle lächelten mich freundlich an. Ich verzog mich weit nach hinten, was die Sängerin enttäuschte, die schon angefangen hatte, vor mir Pirouetten zu drehen, als noch gar nicht klar war, ob ich denn als Gast hinnehmbar sein würde. Sie sang ihre Lieder, Volksweisen und alte Hits, zu einem Laptop-Playback, das ihr Freund arrangiert hatte, der manchmal für eine zweite Stimme auch zum Mikro griff. Ich aß gut, trank Bier, war Punkt zehn Uhr fertig, zahlte, wurde von allen Seiten ganz freundlich verabschiedet und sah noch im Rausgehen, wie überall in den Räumen die Lichter ausgemacht wurden.

Für mich ist das ländliches Verhalten. In Odessa hätten sie mich abgewiesen oder mir durch eine Sonderbestellung noch was abzuluchsen versucht. Verallgemeinerungen, klar - aber mir ist Puschkin spontan unsympatisch geworden für seine Beschimpfung Chisinaus als "finsteres Loch", während er die Weltgewandtheit der Hafenstadt ( die das natürlich unaufhörlich zitiert) nicht stolz genug rühmen konnte - er durfte schließlich dazugehören.

Zwei Stunden vor dem Essen hab ich, was ein Computerplayback angeht, im Vorbeigehen etwas Seltsames gesehen: In einer Seitenstraße in einem Garten verrostete Panzer, Militärfahrzeuge, Raketen, halb Schrottplatz, halb Museum, mittendrin Stühle aufgebaut, eine kleine Bühne, auf der ein alter Mann saß, vor sich einen Laptop, der mit Standboxen verbunden war, aus denen alte Balladen und - Kampfmusik kam. Der Alte griff zum Mikro und sang dazu. Sein Publikum war so alt wie er. Ich blieb am Zaun stehn, begeistert von dem Mix aus Nostalgie und Modernem. Könnte eine mir nahestehende Person zum Jahreswechsel auch so machen...

Chisinau hat eine Haupstraße, die nach Süden hin sehr bunt und boulevardesk wird, nach Norden zu eher streng mit bewachten Botschaften und Protz. Dazwischen das Regierungsviertel, ein paar klassizistische Bauten, ein kleiner Triumphbogen, das Regierungsgebäude selbst aus den 60ern, wie ein verlängerter Berliner Staatsrat. Hört diese Prunkbebauung auf, setzen stalinistische Bauten wie in der Frankfurter Allee die Magistrale fort. Links und rechts davon beginnen schon verrottete Villen, einstöckige Stadthäuser, ungepflegte Plätze, es ist plötzlich wie in Babelsberg, eh dort die Sanierungswut losging. Solange der Schwung der Hauptstraße in diese Seitenwege noch ausstrahlt, gibt es dort viele romantische Ecken mit Cafes, Bars, Gärten. Endet die Verbindung zur Hauptstraße, wird es ärmlich, ruppig und nachts auch finster. Leute laufen mit Taschenlampen durch die Gegend. Dann zieht man schnell da durch, wenn man noch ein bisschen weiter ins Hotel muss.
Auch der Verkehr ist irgendwie bäuerisch. Man fährt an jedes Hindernis so dicht ran, bis es kein Zurück gibt. Dann muss man hupen. Auch wenn einer nicht sofort bei Grün aufs Gas drückt, vielleicht hilfts.
Einiges erinnert mich an das Athen von vor 35 Jahren. Nein, eigentlich an gar nichts erinnert mich das meiste. Manches ganz rührend: Eine Wand mit Parolen, Wünschen usw. beim Triumphbogen, wo jeder etwas schreiben kann (aber ein Soldat steht Reichweite), und der Wunsch z.b. ausgedrückt wird nach Einheit von Besarabien und Rumänien oder auch jemand schrieb "ich liebe Moldau". Oder eine Folge von Stelltafeln vor der technischen Uni, was man dort alles werden kann.
Universitatea tehnika à Moldovei.

Ich weiß ja leider noch fast gar nichts von hier. Was heißt leider? Deshalb kann es mir noch gefallen?
Weiß noch nicht mal, wann dieser botanische Garten zumacht. Keiner mehr zu sehen plötzlich, nur ein Haufen Enten. Es ist halb acht...
kapuziner - 15. Jun, 22:01

Da muss man ja mal hinfahren

Schon um die Lehrbeete im botanischen Garten zu finden ;-)

Überwiegt eigentlich eher das Interessante oder eher das Anstrengende bei deiner spannenden Reise, die ich mir bequem zu Hause durchlese? Oder ist das Anstrengende das Interessante?
Jedenfalls - weiterhin Good Luck!

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