Samstag, 19. Juni 2010

Chisinau 3

Letzter Abend, Treiben aus der Philharmonie (die ich nicht mehr besucht habe), der nette Kellner, der wie Falko grinst, kennt mich wieder, "water and wine", sagt er, ich lache, nur mit 'gas' klappt es nie sofort, ich sage "water with gas", er "with no gas?", ich "with!!", und dann steht's fifty-fifty, ich hab mich an das unsprudelnde Wasser aber schon gewöhnt ("can't make the bells unrung", zutreffender Ausdruck).
Auch für hier trifft er zu. Durch weiteren Ausflugstipp entdeckte ich den Bulvar Moskswa, hoch übern Berg führt er, eine 70er-Jahre Hochhäuser-Allee, flotte, schicke, auch einfache Lokale am Boden, oben amorphe Balkone um flatternde Wäsche. Es weht immer ein frischer Wind, so hoch liegt es, im Winter könnte es ungemütlich sein. Hatte den Eindruck, sie krempeln dieses Viertel gerade um. Als Stück Lebensqualität für den städtischen Arbeiter entworfen, scheinen jetzt Juweliere, Computerspezialisten nachzuziehen, es scheint Eigentumswohnungen zu kaufen zu geben, weiter unten in Richtung eines flachen Sees wächst ein bizarres Luxushotel in den Himmel. Noch ist der See verdreckt und kaum besucht, Ausmerksamkeit täte ihm gut. Umweltsorgsam ist hier noch kaum wer - als wäre die Ressource da.
Zwischen See und Bulvar ein großflächiges Memorial für die in Afghanistan Gefallenen aus der Stadt. Wie absurd diese Kette der Toten, die jetzt woanders fortgesetzt wird, für was? Was gibt man eigentlich für Begründungen? Wird man sich nicht irgendwann auf ein dumpfes ' Dulce et decorum est' beschränken? Manche Dinge bleiben so finster wie platt. Hinterher darf sich ein Staatskünstler über den Auftrag für das Gedenken freuen. Ich höre dabei leider immer noch die Stimme der Ethnologin Almut Mey, zehn Jahre älter als ich und weitgereist damals, die 1969 sagte: "Von allen Ländern auf dem Weg nach Tibet ist Afghanistan das weiseste, dabei auch westlichste. Da kannst du dich einfach dazusetzen und lernen..."
Und das heißt: Manche Dinge werden eben auch unwiderruflich zerstört.
Eine Funkennacht, irgendwo Feuerwerk, das Café hat heut länger auf, mit dem O-Bus hin, mit Marschrutki zurück war ich gerade nochmal auf dem Berg für 25 Cent, mir macht keiner was vor, nur die Kreditkarte bröselt, zwei Wochen muss sie noch halten. Vorzeitige Rückfahrt behalte ich mir immer noch vor, man soll gehn, wenn's am schönsten ist, auf dies kleine Land hier trifft's auf jeden Fall zu, der Nachtwind bringt schon den Regen.
Die Türkei umwirbt die Moldavier massiv für den Urlaub, und Kanada wirbt um ihre Arbeitskraft: "Emmigrate" ist die Botschaft. Der Außenminister wirbt unterdessen bei der EU um Visafreiheit für seine Landsleute, viel Erfolg!

Freitag, 18. Juni 2010

Eine Stunde Wiki-Surfen

Jule Neigel verlebte ihre ersten zwei Jahre in Tiraspol, also hier um die Ecke.
Und Igor Alexander Caruso wurde 1914 dort geboren ("Die Trennung der Liebenden").
In diesem Zusammenhang: Caruso (für mich einer der wenigen großen Psychologen) arbeitete 1942 mit 28 am Wiener Kinderhospital 'Spiegelgrund' mit, wo Euthanasie betrieben wurde. Nach seinen Gutachten wurden dort qahrscheinlich mehrere Kinder getötet.
Chisinau war um 1900 ein jüdisches Zentrum, 45% der Bevölkerung war jüdisch. 1903 fand, angestachelt von der einzigen Zeitung des Orts, Bessarabez, ein Progrom statt, bei dem ca. 50 Juden umkamen, mehrere hundert verletzt wurden, zahlreiche Häuser verwüstet, Geschäfte geplündert usw. Anschließend Flucht vieler Juden. Es gab internationales Aufsehen deswegen, sogar eine Depeche von Theodore Roosevelt an Zar Nikolaus II., die unbeantwortet blieb. Im Chininauer hist. Museum habe ich darüber nichts erfahren.
Auch der 'Arbeitskreis für Psychoanalyse' in Wien hat sich erst in den Neunzigern und auf Druck der Öffentlichkeit mit der Gutachtertätigkeit seines Gründers, Mentors und Starmitglieds Igor A. Caruso beschäftigt.

Jetzt wieder raus ins Freie.

Gang und gäbe

Die hohen Stimmen, die manche Männer hier haben. Wird sowas vererbt? Werden Charaktereigenschaften damit verbunden? Gilt es als potent, weibisch oder schick? Niedlich? Vertrauenerweckend? Versteckt wird die Klangfarbe jedenfalls nicht.
Moldawisch ist wohl ein rumänischer Dialekt, es hört sich in der Biegung der Klangfarben manchmal wie deutsch an, besonders, wenn Kinder reden. Auch der Silbenklang ist oft ähnlich, also ziemlich anders als ukrainisch. Obwohl mir der klangliche Übergang fließend vorkam, das glucksende Zischen des Westukrainischen war in Odessa einem viel vokalreicheren Silbenfluss gewichen, der schon fast so klang, wie sie hier reden. Und die russischen Brocken bleiben: da, dawei, paraschut. Wenn ich nach dem Voksal frage, werde ich verstanden, bei Station oder station nicht; hier heißt der Bahnhof Gar. Rumänisch wirkt oft wie eine Leihsprache, gelesen besonders: Fumatul strict interzis. Comicsprache, Esperanto-Konkurrenz.
Ist es wirklich die römische Legionärssprache, haben die west - und öströmischen Legionäre denn ein gleiches Wort gehabt, aus dem sich dann unabhängig voneinander das Gar(e) des Bahnhofs entwickeln konnte?
Ich sitze hier übrigens vor einem Glaspalast-Einkaufszentrum namens Mall-Dovia. Das ist schon jenseits vom Bierpinsel, das schreit nach einem Freundschaftsband mit den TelTowers bei Berlin.

Während in Odessa nur eine greise Mutter ihren debilen erwachsenen Sohn ins Konzert mitnahm, sind hier richtige kleine Kinder dabei. Es ist nicht feierlich, man kann auch von der Arbeit ins Konzert gehen. Ich hätte sogar Sandalen tragen können. Nicht feierlich, eher aufgeregt, ein wenig genervt.
Dafür fehlt hier vielleicht die Eigenheit, raffinierte Kleider, funkelnder Kopfschmuck, es fehlt bei vielen auch die kennerische Routine im Zuhören. Mehrmals Beifall an falschen Stellen und am Ende ein tobender Jubel, als hätte gerade eine Mannschaft gesiegt. Die junge Dirigentin mit dem Borstenhaarschnitt rast hin und her wie beim Popkonzert.
Dabei bin zwischendrin nicht nur ich manchmal richtig weggesackt, Rossinis Ideen werden durch eine Menge Floskeln zusammengehalten (wie von Riemen), und an zwei Flügeln statt vom Orchester gespielt hört man das Füllmaterial dann noch mehr. Wie man Mörtelmasse am ungestrichenen Bau sieht.
Das heißt gar nicht, dass es schlecht war. Ich finde Enttarnung von Effekthascherei ja gut. Und eine Messe, die sich am Schwung von Opernmassenszenen orientiert, auch. Der Chor war übrigens hervorragend. Die beiden Pianisten verpassten sich manchmal, wahrscheinlich weil sie sonst solistisch unterwegs sind. Der Tenor sah aus wie der ganz junge Helmut Kohl, sein Baritonkollege wie Putin oder zumindest dessen Leibwächter. Altistin und Sopranistin hätten gerade frisch eingekleidet aus der Malldova kommen können. Dass die meisten (Männer, Frauen, beides?) bei schrillen Koloraturstimmen in Wallung geraten und nicht beim weichen Alt - mir geht's umgekehrt.
Später vor der Philharmonie, Reggaebar, völlig anderes Viertel entdeckt, süßer Wein, auf anderer Straßenseite Chormädchen, die bei ihren Parodien von Opernarien immer mehr in Extase geraten. Hier übertönt von Bob Marley, unter dem Stoffdach, auf das es jetzt leicht regnet.

Ich war im Geschichtsmuseum, bin dem Abenteuer mit Transnistrien etwas nachgegangen. Nach Lektüre und ein paar Gesprächen so etwa: Gebiet schon immer umstritten, weil Sprachgrenze zwischen Rumänisch und Russisch bzw. Ukrainisch. Also auch Mentalitätsgrenze slawisch / romanisch, wenn man es sehr groß nimmt. Zarenreich hatte, wenn es gegen die Türken die Gebiete hier besetzt hielt, immer auch Slawisierungsanspruch, nannte z.B. Moldavien in Besarabien um nach einem Adelsgeschlecht, das Russen wohlgesonnen war. Als Moldavien (wie Teile der Südukraine, z.B. Cernivci) nach dem ersten Weltkrieg zu Rumänien kam, legte Stalin eine Art Köder aus, indem er das Transnistriengebiet der Ukraine wegnahm und für autonom, aber unvollständig erklärte. Sobald dann der Hitler-Stalin-Pakt die große Umschichtung der Gegend ermöglichte, ließ er die Transnistrier (mehrheitlich Ukrainer) Vereinigung mit dem 'Restmoldavien' fordern, das bisher gut ohne diese ukrainischen Flussgebiete ausgekommen war. Am Ende des miesen Spiels - Deutsche und Rumänen hatten dazwischen die Gebiete nochmal rückerobert und gemeinsam die starke jüdische Minderheit vernichtet - stand die Deportation von ca. 20.000 Moldawiern nach Sibirien, aus Rache, ethnischem Hass, Angst vor Eigenständigkeit. In der sozialistischen Republik Moldau wurde ab sofort der rumänische Dialekt Moldauisch genannt und kyrillisch geschrieben. Amtssprache war russisch. Eine der längsten Straßen in Chisinaus Altstadt heißt '31.8.1989', warum? "Das war der Beginn unserer Sprache", sagt Stefania vom Hotel.
Als '89 die moldawische Selbständigkeit begann, waren die Nerven der vielen hier lebenden Ukrainer und Russen auf Alarm gestellt. Wie sie es schafften, dass sich die junge Republik nicht mit Rumänien vereint hat, keine Ahnung, vielleicht wollte es keiner wirklich. Aber die russisch orientierten Kombinatchefs im Südosten, in Transnistrien, der am meisten industrialisierten Ecke des Landes , haben durch den Putsch gegen die moldawische Unabhängigkeit einfach ihre Produktionsform gesichert, sie produzieren weiter erfolgreich Stahl, haben die alten Gegenseitigkeitsverträge mit Moskau und nehmen das bisschen Volk als 'sozialistische Geisel'. So klingt es jedenfalls hier. Wäre schon interessant, mal wen von da zu sprechen.
Das historische Museum hält sich detailliert mit der Staatsfindung Moldawiens auf. Die kurze Zeit des Zusammengehens mit Rumänien wird dabei als kultureller Höhepunkt gewertet. Dass in jener Zeit mit den deutschen Faschisten zusammen die Juden vernichtet wurden, davon kein Wort, nur zwei kleine Fotos. Die "faschistischen Verbrechen" erscheinen am Ende des 2. Weltkriegs wie böse Überraschungen. Und gleich setzen ja dann auch schon die Deportationen durch die Sowiets ein, die außerdem jede Menge 'Fremde' hier sesshaft machten.
Warum im hist. Museum so gar nichts über die sowjetische Zeit gezeigt würde, immerhin 40 Jahre, frage ich Stefania vom Hotel. "Nobody will remember that", sagt sie, "it was such a hard time". Die sie höchstens als Kleinkind erlebt haben kann. Das ist also schon Überlieferung.
In Odessa auf dem Trödelmarkt hab ich Stalinbilder gesehn; hier wohl undenkbar. 40 km weg in Tiraspol vielleicht gang und gäbe.

Deportationen, ein Foto: Wissenschaftler Alexei Birlsdeanu und Frau schauen vorn vorsichtig hockend unendlich traurig und misstrauisch in die Kamera, während hinter ihnen Sohn und/oder Tochter mit Partner/in stämmig und optimistisch, aber auch grob wie aus anderem Holz in die Zukunft grinsen, irgendwo in Sibirien, Neubauviertel, Kälte.

Je länger ich hier bin, desto lieber in dem kleinen Hotel. Es gibt bis 11 Frühstück. Es war erst stickig, ist jetzt, weil draußen kühl, warm und gemütlich im kleinen Zimmer. Wlan geht, Wäsche wird fast umsonst gewaschen, die Bar ist immer besetzt. Das Hotel wird geführt von jungen Frauen, wieviele, weiß ich nicht, ich lerne jeden Tag neue kennen. Erst dachte ich, Stefania ist die Chefin, aber sie spricht bloß am besten Englisch und berät kompetent, was Reiseplanung und Ausflüge betrifft. Wer hier eigentlich noch wohnt, weiss ich nicht, jede Nacht ein anderes Mädchen an der Bar und ein, zwei Männer, die am Fernseher Fussball einzustellen versuchen. Wenn man reinwill, muss man klingeln, auch tagsüber, dann kommt eine runter öffnen, warum, weiß ich auch nicht, mir kommt die Gegend nicht gefährlich vor. Gestern nacht hatte der alte Elektriker es geschafft, um die Eingangstür eine wandernde Lichterkette zu installieren, als ich sagte, dass es mir gefällt, haben sich alle gefreut. Es bringt die Namensschrift Bella Donna sehr gut zur Geltung.
Neulich, als ich frühstückte, kam ein Paar, er älter, sie jung, gingen hoch in den 1. Stock. Kurze Zeit darauf lautes Klingeln, eine auch ziemlich junge Dame außer Atem steht vor dem Eingang. Man tut so, als höre man schlecht. Sie könnte sich auch in der Tür geirrt haben. Außerdem muss man gerade das Papier im Faxgerät wechseln, das macht sich ja nicht von selbst. Als die Frau draußen resigniert gegen die Tür tritt und weggeht, springt eine der Empfangssdamen die Stufen runter, schließt auf, schaut ihr vorsichtig hinterher, schließt gleich wieder, Gesichtsausdruck: Ich hab's immerhin versucht. Aber was geht's mich an?
Was ja auch stimmt. Wenn das Ganze überhaupt so war. wie ich's aufgeschrieben hab...

Dienstag, 15. Juni 2010

Chisinau 2 - Parktag

Ich sitze im bezaubernden botanischen Garten, für 33 Cent kann man hier über Wiesen, zwischen kleinen Teichen, durch Wäldchen hin und her, man kann ausruhen, Sport treiben, angeln, flirten, im Gras liegen - zwar habe ich Lehrbeete bis hier zu der Bank am Wasserfall nicht bemerkt, irgendwo wird es die wohl auch geben.

Chisinau ist auch eine Freizeitstadt. Wegen immer weniger Industrie und den vielen Parks hat es eine hervorragende Luft. Auch zwischen den Regierungsgebäuden im Zentrum sind Parks, an der Grenze zum Remmidemmi, sichtbar bewacht von schwarz uniformierten Polizisten, die schon mal einen Bettler entfernen, er muss dann aber laut geworden sein. Auch Großleinwände gibt es jetzt dort, wegen der WM, sogar ein kleines Schwimmbad mit genauen Regeln, in dem man für 50 Lei 45 Minuten seine Bahn ziehen darf. Das ist teuer, auch die Esslokale drumrum nehmen wahrscheinlich mehr, als sich eine Quasverkäuferin draußen auf der Straße leisten kann. Quas ist russisch, eine Art Malzbier, eiskalt sehr erfrischend, angeblich ohne Alkohol, aber ich wurde davon so müde, dass ich vorsichtig geworden bin.

Chisinau ist auch eine Stadt zum Feiern. Auch die Hügel hoch in den Neubauvierteln überall Cafés, Buden, Clubs. Weniger Kinos als Theater, so mein Eindruck. Vielleicht deshalb, weil Theaterspielen billiger ist als internationale Verleihe zu bezahlen. Es sei denn, sie lassen sich auf den Markt hier ein: McDonalds wirbt damit, dass sein Burger 10 Lei kostet, 65 Cent, in der Ukraine kostet er fast das Doppelte. Umgekehrt Busse und Bahnen, hier praktisch doppelt so teuer wie in der Ukraine, nämlich 2 Lei die Fahrt statt 1 Hryfnie, dementsprechend angenehm wenig besetzt sind viele Wagen. Es wird dann wohl mehr gelaufen... (gerade eben war im O-Bus zum Park eine ganz erregte Diskussion, die auf immer mehr Fahrgäste übergriff, weil die Schaffnerin eine alte Bäuerin offenbar umsonst mitfahren ließ. An der Endhaltestelle griff das dann noch auf Fahrer und Schaffnerin über).

Viel Bäuerliches in Chisinau, Kleidung, Gehabe, auch der Protz etwas weniger gekonnt als in Odessa.
Als ich gestern abend im leichten Regen (endlich mal) in ein vom Hotel empfohlenes Restaurant kam, war es kurz vor halb zehn, ich sah gleich, ich war der einzige Gast, aber Musik lief und eine junge Sängerin sang. Ob ich nicht wisse, dass sie alle nur bis zehn Uhr arbeiten, wurde ich auf Englisch gefragt. Nein, wisse ich nicht, ob ich denn noch was zu essen bekäme. Die Frage wurde auf moldawisch weitergereicht, der Unmut in den Gesichtern blieb eine halbe Minute, dann entschied eine junge Frau "da", und alle lächelten mich freundlich an. Ich verzog mich weit nach hinten, was die Sängerin enttäuschte, die schon angefangen hatte, vor mir Pirouetten zu drehen, als noch gar nicht klar war, ob ich denn als Gast hinnehmbar sein würde. Sie sang ihre Lieder, Volksweisen und alte Hits, zu einem Laptop-Playback, das ihr Freund arrangiert hatte, der manchmal für eine zweite Stimme auch zum Mikro griff. Ich aß gut, trank Bier, war Punkt zehn Uhr fertig, zahlte, wurde von allen Seiten ganz freundlich verabschiedet und sah noch im Rausgehen, wie überall in den Räumen die Lichter ausgemacht wurden.

Für mich ist das ländliches Verhalten. In Odessa hätten sie mich abgewiesen oder mir durch eine Sonderbestellung noch was abzuluchsen versucht. Verallgemeinerungen, klar - aber mir ist Puschkin spontan unsympatisch geworden für seine Beschimpfung Chisinaus als "finsteres Loch", während er die Weltgewandtheit der Hafenstadt ( die das natürlich unaufhörlich zitiert) nicht stolz genug rühmen konnte - er durfte schließlich dazugehören.

Zwei Stunden vor dem Essen hab ich, was ein Computerplayback angeht, im Vorbeigehen etwas Seltsames gesehen: In einer Seitenstraße in einem Garten verrostete Panzer, Militärfahrzeuge, Raketen, halb Schrottplatz, halb Museum, mittendrin Stühle aufgebaut, eine kleine Bühne, auf der ein alter Mann saß, vor sich einen Laptop, der mit Standboxen verbunden war, aus denen alte Balladen und - Kampfmusik kam. Der Alte griff zum Mikro und sang dazu. Sein Publikum war so alt wie er. Ich blieb am Zaun stehn, begeistert von dem Mix aus Nostalgie und Modernem. Könnte eine mir nahestehende Person zum Jahreswechsel auch so machen...

Chisinau hat eine Haupstraße, die nach Süden hin sehr bunt und boulevardesk wird, nach Norden zu eher streng mit bewachten Botschaften und Protz. Dazwischen das Regierungsviertel, ein paar klassizistische Bauten, ein kleiner Triumphbogen, das Regierungsgebäude selbst aus den 60ern, wie ein verlängerter Berliner Staatsrat. Hört diese Prunkbebauung auf, setzen stalinistische Bauten wie in der Frankfurter Allee die Magistrale fort. Links und rechts davon beginnen schon verrottete Villen, einstöckige Stadthäuser, ungepflegte Plätze, es ist plötzlich wie in Babelsberg, eh dort die Sanierungswut losging. Solange der Schwung der Hauptstraße in diese Seitenwege noch ausstrahlt, gibt es dort viele romantische Ecken mit Cafes, Bars, Gärten. Endet die Verbindung zur Hauptstraße, wird es ärmlich, ruppig und nachts auch finster. Leute laufen mit Taschenlampen durch die Gegend. Dann zieht man schnell da durch, wenn man noch ein bisschen weiter ins Hotel muss.
Auch der Verkehr ist irgendwie bäuerisch. Man fährt an jedes Hindernis so dicht ran, bis es kein Zurück gibt. Dann muss man hupen. Auch wenn einer nicht sofort bei Grün aufs Gas drückt, vielleicht hilfts.
Einiges erinnert mich an das Athen von vor 35 Jahren. Nein, eigentlich an gar nichts erinnert mich das meiste. Manches ganz rührend: Eine Wand mit Parolen, Wünschen usw. beim Triumphbogen, wo jeder etwas schreiben kann (aber ein Soldat steht Reichweite), und der Wunsch z.b. ausgedrückt wird nach Einheit von Besarabien und Rumänien oder auch jemand schrieb "ich liebe Moldau". Oder eine Folge von Stelltafeln vor der technischen Uni, was man dort alles werden kann.
Universitatea tehnika à Moldovei.

Ich weiß ja leider noch fast gar nichts von hier. Was heißt leider? Deshalb kann es mir noch gefallen?
Weiß noch nicht mal, wann dieser botanische Garten zumacht. Keiner mehr zu sehen plötzlich, nur ein Haufen Enten. Es ist halb acht...

Chisinau 1

Es gibt so vieles aus Odessa nachzutragen, aber Chisinau, wo ich heute hingekommen bin, ist wieder ganz was anderes.
Hauptstadt Moldaviens, Republik Moldau, Moldova oder, wie ich heute auf einem mehrsprachigen Schild las, auch Moldachei genannt. Eigentlich nur knapp 150 km von Odessa weg, aber man muss einen doppelt so langen Umweg fahren, weil zwischen beiden Städten das sich unabhängig verhaltende von zwei Familien regierte autonome Gebiet Transnistrien sich einschiebt, aus irgendwelchen Gründen von Russland gestützt (so wie der Kosovo von den EU-Menschenrechtlern, ein Wunder eigentlich, dass sich bei den deutschen Grünen keine Untergruppe 'Freiheit für Transnistrien' findet, Waffenhandel und mafiöse Volksbehandlung sollten doch für das simpel gestrickte Mitglied leichter verkraftbar sein als Organhandel mit den ausgeschlachteten Feinden).
Also auch Russland hat seine humanitäre Schnurre, im Fall Transnistrien wirkt das so, dass das Mafiastäätchen gern einmal Ausländer kapert, ihnen alle möglichen Durchreisepapiere verkauft und sie dann im Schatten der russischen Schutzsoldaten aufs Gebiet der Republik Moldau entlässt. Wo sie sich ab da unangemeldet und also strafbar aufhalten (was natürlich nichts weiter als die aggressive Lesart der serbischen Aggressoren ist - um die Parallele noch einmal zu strapazieren).
Noch konkreter: Nachdem ich längst mein Ticket für den 6-Stunden-Bus Odessa-Chisinau hatte, pulverte heut früh am Busbahnhof ein lauter, witziger, mir sehr unangenehmer Taxifahrer auf mich ein, ich wolle doch wohl nach Moldavien, dahin fahre er auch, aber zwei Stunden nach Chisinau, keine sechs wie der blöde Bus, und fürs gleiche Geld, da wäre man doch bescheuert, wenn man nicht einschlägt, nicht mit ihm mitfährt. Also dafür sorgen, dass ich mein Ticket zurückkrieg, das würde er auch, ich solle es ihm doch überhaupt erstmal zeigen, das würd ich mich ja wohl wenigstens trauen....
Ich schüttelte immer nur den Kopf und ging irgendwann. Später hörte ich ihn Tiraspol ausrufen, also die Hauptstadt von Transnistrien, und eine nordeuropäisch aussehende Reisende befand sich in seinem Schlepptau. Sie tat mir leid, aber ich saß schon in meinem Bus.
Ich gebe zu, ich hatte Angst genug vor mehreren Kontrollpunkten, an denen von allen Mitreisenden ernst geschwiegen wurde, vom Fahrer vorneweg, der mir auch schon genau so ernst schweigend 15 Hryvnien für mein Gepäck abverlangt hatte, keiner muckst sich, wenn die Zöllner zusteigen, aber allen anderen hätte gleich es sein können, was mich eine halbe Stunde lang panisch machte: Sie würden doch vielleicht den kürzeren Weg wählen, der eine Fremde hätte dann eben Pech gehabt, EU-Bürger, der sowieso genug Vorteile einheimst - was war ich froh, als dann in Stein gehauen am Dach des Grenzübergangs stand: Moldova.

Ärmstes Land im EU-Umfeld. Riesige Kuhherden weiden bzw. lagern sich schlapp ab in der Hitze der Flussauen. Weinabau, Pferdekarren, freilaufende Hunde. Straßen so schlecht wie in der Westukraine - während man um Odessa herum richtig flitzen kann (mehr kenn ich ja nicht).
Die Großstadt kündigt sich lange vorher durch ein monströses Rohrsystem an, ähnlich wie in den Ostberliner Plattensiedlungen, aber viel breitere Rohre und alle zerbröselt. Und manchmal gar keine zugehörigen Wohnblocks, nur Rohr und Straße und vielleicht noch ein Abflussgraben. Dann ein See, in dem sogar Leute baden (es ist so heiß, da badet man überall). Neue Siedlungen, prekäre Bausubstanz bis hoch in den 18. Stock, wo noch Wäsche hängt, das hätte man bei uns nicht geduldet. Mitfahrende raffen ihr Zeugs zusammen, eine krakeelt so lange, bis sie rausgelassen wird. Ich bete dann immer: fahr weiter, fahr doch bis in die Mitte von dieser hässlichen Stadt, ich will mich hier draußen nicht durchboxen müssen. In solchen Monenten ist mir noch jede Stadt hässlich vorgekommen.

Samstag, 12. Juni 2010

Überm Meer

Nach Jahren mal wieder: überm Meer, Wasserskirasende vor mir, wegspritzende Schwimmer, tiefbraun Ausdauernde und die Faustballspieler barfuß im Sand, hinter mir der Musikbrei, der an allen bevölkerten Stränden der Welt animiert, "say you want, say you need", man hört die Musik sofort dazu, es ist weit außerhalb, schemenhaft sieht man am anderen Ende der Bucht Hochhausdunst. Odessa ist richtig groß, war nicht nur der südlichste, auch der größte Hafen der Sowietunion.

Vom Hafen aus gelaufen, erst durch Verwaltungstrakte, dann verspielte Parks, Wohnblocks, durch ein Volksparktor, und von sozialistischer Ordnung mit begrenzten Ausblickbänken aufs Hafengelände ging es auf immer breiterem Weg mit immer mehr Flaneuren auf eine Strandpartie zu, wo kein Halten ist, Buden auf Buden, Grill und Tätowierung, Delfinarium und Muskelkunstwerker, Ponyreiten und Disko natürlich und Karaoke, und Fisch Fisch Fisch. Sogar Sushi. Das Wasser, so nah am Hafen, echt schmutzig, wenn man genauer hinschaut.
Ich nahm ein Elektromobil von dort. Zum Strand 'Arkadien', dachte, das liegt nebenan und war etwas pikiert vom Preis, 25 Hryfnien, 2,70 € jetzt (im Februar wärens 2,30 gewesen). Als der Stecker des Fahrzeugs aus der Dose gezogen wurde, kriegte jeder von uns eine Orangade in der Tüte gratis, daran sah ich schon, es würde eine lange Fahrt sein - zwanzig Minuten bergauf, bergab, an Skatern vorbei und Joggern, durch Schranken, die sich mit Zauberhand öffneten, an Badeplätzen und Lokalen,wo ich gern ausgestiegen wäre, aber Arkadien war noch weiter. Als kurz vorher eine Oma mit Enkel aus - und zwei 12jährige Mädels einstiegen, die immerzu den Refrain eines eben gehörten Schlagers nachsangen, hoch, tief, schräg, richtig, aber andauernd, da war klar, Arkadien ist für jeden was anderes. Während am Einstiegsstrand ein Abenteuerrummel aus vergangener Zeit zerstört am Wegrand liegt, durch einen Zaun abgetrennt, aber sichtbar (die halb verbrannte Geisterschiff-Wippe), romantisch sichtbar, funktioniert hier in Arkadien alles. Hochelektronisch ferngesteuerte Geisterwelt. Ein Wachsfigurenkabinett. Nightclubs. Eine Bühne mit hochamtlicher PA und Lichtversorgung. Hotels. Diskos. Ich wette, eine Kirche gibt's auch. Bin an die höchste Stelle geflüchtet, esse zum offensichtlichen Ärger des Chefkellners nur einen kleinen Gemüsesalat. Er gibt den Ärger in Form einer Rechnung, die in einer Art Riesenkübel versteckt wird, an eine Untergebene weiter. In vielen Lokalen hier steht ein Schwarm von Dienstleistenden herausgeputzt in Schlange oder Klüngel bereit, den Kunden zu bedienen bzw. Arbeit zu delegieren. Die Ware Arbeitskraft ist hier billig. Das Geld auf meine Rechnung nimmt eine Kellnerin entgegen, die den Riesenkübel am Ende wieder dem Chefkellner reicht. Jetzt muss das Restgeld zurück, dazu schickt er wieder eine andere los. Der lege ich wie nebenbei einen kleinen Schein beiseite, sie schaut mich an und traut sich nicht, das Trinkgeld zu nehmen. Schon ist der Chefkellner wieder da, wittert herum und nervt mich damit so, dass ich einfach gehe.

Ich war angekommen und gleich ein bisschen genervt von Odessa. Deshalb am Strand gelandet. Eine sofort begeisternde Stadt, das ja, aber künstlich, malerisch überall, komponiert, die Schachspieler in den Parks gehören dazu wie die halbnackten Damen an den Militärfahrzeugen der Reichen, die Sonnenbader (jetzt in der Gluthitze eher: Sonnenflüchtlinge, Schattenbader), alten Geschäftsleute, wunderlichen Bettlerinnen - alles im Verdacht einer Inszenierung.
Zum Beispiel gibt es nirgends Tourismusbüros, die Stadtführungen anbieten, Rundfahrten (erst am 3. Tag hab ich so was doch noch entdeckt): Man ist drin, und jetzt muss man in dem Theaterstück eben zurechtkommen. Das natürlich auch Mängel hat: Ursprünglich sollte man ja die Stadt Odessa vom Hafen aus betreten, deshalb die Treppe, man stieg sie in das künstliche neue Paradies der Grafen Potomkin und Richelieu empor - auch nach Arkadien also. Heute kommen aber fast alle vom Bahnhof oder Flughafen, also von oben, arbeiten sich vor bis zu den Palästen hoch überm Meer, schauen an der Treppe runter - und auf ein riesiges Allerweltsluxushotel im Hafen, das direkt den Blick in die Ferne versperrt (500 Dollar die Nacht lässt mich später eine Einheimische wissen). Das hätte nicht sein sollen, das unterbricht das Schauspiel!
Ich bin ja dankbar für solche Fehler. Freue mich an rostigen Schiffen bei der Hafenrundfahrt später genauso wie an den springenden Delphinen, die wie aufs Stichwort um unser Boot hüpfen. Die einzigen in Bewegung an diesen heißen Tagen, so scheints.
Ob die Ruhe in dieser Stadt, von aggressiven Kampfautofahrern und betrunkenen Nachtbummlern abgesehen, eher am Wetter oder der Mentalität liegt? Im (etwas russisch-neureichen) Hotel Odesski Dvorik, wo ich abgestiegen bin, schlägt das Abgehangene im Umgang mit dem Gast sich eher in Schlechtgelauntheit nieder, die hier vielleicht weltmännisch wirken soll - auf einem vier Straßenblocks großen Trödelmarkt, auf dem ich heute Mittag war, wirkt diese Ruhe wie weise. In Berlin nicht, noch weniger in Athen oder Istanbul würden knapp tausend Menschen, die verkaufen wollen, so still vor dem Mitgebrachten hocken, Kleidung, Werkzeug, Tiere, Blumensamen, manche nur einzelne Kacheln oder Würzelchen aus dem Hausgarten dabei, andere Berge von irgendwo herbeiorganisiertem Zeugs. Man spart sich einfach den Lärm. Man ist ja sowieso da. Großartig. Beneidenswert. Ob man das lernen kann?
Jedenfalls habe ich hier seitdem Hemd und Hose für 3,50.

Freitag, 11. Juni 2010

Splitter Odessa 1

Der erste Mann mit Kippa auf dieser Reise.
Tag später noch einer, ich geh ihm nach, wohnt tatsächlich im alten Judenviertel. Lese, die Hauptsynagoge ist seit den 90ern wieder in Gebrauch.

"Nobody has right to judge me only God" hat ein junger Mann am Strand auf den Rücken tätowiert. Also auf lange Sicht: Keiner.

Bettler, die singen, laut, klar und à capella. Einer schob sich gestern nach einer kleinen Vorrede singend durch einen überfüllten Bus, ich konnte ihn von meinem Sitz aus nicht mal sehen. Wer kann ihm was zugesteckt haben?

Auf der Fahrt zum Bahnhof Lemberg Indiz, dass die klapprige Straßenbahn aus Deutschland dort hin kam. "Bitte nicht mit dem Fahrer sprechen" steht verblichen zwischen neueren kyrillischen Aufklebern. Weitere Recherche lässt vermuten: Aus Westdeutschland. "...erke Iserlohn" lappt unter frischeren Aufschriften beim Fahrersitz. Stadtwerke? Lasse die Nachforschung, es ist missverständlich, wenn ich mich über den Fahrer fast rüberbeuge.

Fahrt vom Strand weg, wo eine Kopftuchalte den Fahrkartenverkauf übernahm mit einer so unangenehmen Stimme, so herrisch-dawei-dawei-zusammenschiebend, dass jeder sich kugelig klein machte, demütig von vornherein schon; an einem Umsteigepunkt, wo eine Mutter sich offensichtlich weigerte, von der Tür weg ins Wageninnere zu treten, riss sie einfach deren kleine Kinder mit sich fort, die Mutter stolperte fassunglos hinterher. Ich musste an Stalins Vertreibungspolitik senken.

Auf dem Pryvozmarkt - neben unzählig anderem - zwei Fischhallen. Eine unter Rohbaudach ohne Außenwände und Verglasung, hunderte Stände mit Fisch vom winzigen Garnelchen bis zu Riesenflunder, Hai und Schwertfisch, alles in Haufen mit Frauen davor, die rauchen und mechanisch mit Blätterwedeln die Fliegen verscheuchen, was natürlich aussichtslos ist. Stundenlang. Hier laufen auch hunderte Kunden herum, trotzdem hab ich den Eindruck, es wird eher spärlich gekauft.
Daneben der andere Markt im festen Haus: Klare Stände, abgegrenzt und mit Strom versorgt, hier liegt die gleiche Vielfalt von Fisch in weniger Menge auf Eis, wird mit Handschuhn bedient, gibt es alle paar Meter Karren mit frischem Wasser und Heißgetränke. Die Preise sind mehr als doppelt so hoch, die Kundschaft viel spärlicher. Aber wer hier hergeht, der kauft, glaube ich.

Noch nirgends hab ich so viele Off-Roader gesehn wie in Odessa. Und selten so viele Bettler bzw. Anbieter von irgendwas. Ich bin ja nicht so viel rumgekommen. Es fällt auch nicht so auf, weil hier alle darauf achten, dass sie einigermaßen sauber gekleidet sind, irgendwie europäisch geschniegelt, egal, wie's ihnen geht. Nur die Reichen zeigen sich ungern: Ein Superschlitten muss so tief getönt sein im Glas, dass man nichts drinnen sieht, kein Stäubchen. Damit es siffiger sein darf als im Zimmer des Bettlers?

An der Potomkinschen Treppe bietet mir ein Verkäufer erst Postkarten, dann Kaviar ("20 €" - "No" - "10?" - "No" - "5!" - "-" - "Fuck you") an, dann so schlecht gefälschte Euroscheine, die ich irgendwie einwechseln soll, dass ich laut auflachen muss.

Nein, Hytapiyc heißt nicht Kramladen, sondern Notarius, wie ich endlich begriffen habe; genauso, wie ich mich nicht mehr wundere, dass es in Warschau, Lemberg, Odessa so viele Rektorate geben soll, auch ganz kleine, für welchen Fachbereich denn? Es hat gedauert, bis ich da einfach reinging und was zu essen bestellte, als ich Hunger hatte.

Immer blöd, wenn man Sitten nicht kennt, zu Fasching ohne Verkleidung, zum Polterabend ohne was zum Zerdeppern kommt. Ins Schlafwagenabteil bringen die Ukrainer flauschige Trainingsanzüge bzw. Topps mit, sie stehen erst zwei Stunden am Fenster oder essen platzgreifend im Abteil, dann erst zieht man sich um, einer nach dem andern, klappt die Betten runter, bezieht im Handumdrehn die schmale Pritsche, dreht sich zur Wand - und schläft noch lange nicht. Erst wird noch telefoniert. Dann wird der Zug wohl grad halten, klagend wird eine Ansagerin einen langen Sermon verlesen, woher, wohin, wozu und warum nicht (es klingt jedesmal wie die gleiche Stimme, vielleicht die ukrainische station-voice im Wortsinn). Als sich unser Zug schließlich in die Nacht schob, Kühle kam, sah ich ein kleines Bauernhaus mit Bank davor langsam vorbeiziehn (wir fuhren für 780 km 12 Stunden) und dachte: Warum bist du Idiot jetzt nicht in Lunow?
Irgenwann nachts wurde ich wach davon, dass die Klagestimme von Marschmusik abgelöst wurde nach jeder Ansage. Treibende slawische Marschmusik. Das machte alles ganz festlich. Wüsste den Bahnhof gern.

Donnerstag, 10. Juni 2010

Ankunft Odessa

Der prächtige Bahnhof, zum Hafen hin Alleen unter schattigen
Laubbäumen. Gleich von Anfang an zweistöckige, sparsam verzierte leicht wirkende Häuser mit Schmucksimsen über den Fenstern. Ich zerre mein Zeugs verschwitzt, aber flott über die Holper des Pflasters. Der erste offene Laden mit Tisch draußen ist eine Confiserie, also nur Gebäck. Bald verspeise ich zu Café amerikain ein Stück wunderbaren warmen Apfelkuchen. Neben mir braust der Verkehr. Ein Pärchen hält in der Schlange, er schaut gelangweilt durch mich durch, sie grinst, sagt was, er nickt gelangweilt. Sie lächelt. Ich lächle zurück, sie jetzt mit einem Ausdruck wie: Genieß es nur. Wir winken uns zu. Er gibt Gas.
8 Uhr 30, die Stadt lebt los.

Ich brauche ziemlich lange, bis ich im zweiten Café die kyrillische Inschrift an einem wunderschönen, auch wunderschön restaurierten vierstöckigen Jugendstilhaus entziffere: M.G.Grünberg
Hier übrigens eine Gruppe junger Leute, die mit in Karaffen
angeliefertem Alk schon jetzt zu lauter Form auflaufen. Könnte bald unangenehm sein.

Mittwoch, 9. Juni 2010

Lviv von Nacht zu Nacht

Trommelfeuer im Park, ein Trupp Feuerschlucker probt und sammelt, und am Bierausschank treffen sanft Betrunkene mit akademischen Disputanten, deutschen Montageingenieuren und italienischen Ladies zusammen. Man hört mehr fremde Sprachen als im Winter, man hört überhaupt viel mehr. Gibt mehr Geschubbse, Verkehrsgerangel, und das Restaurant im Hotel wird abends nur noch fürs Internet benutzt, man will draußen sein. Der Abend hier ist eine lange Fahrt.

Man darf nichts für etwas anderes machen: nicht reisen, um Lieder zu schreiben, nicht in die Ferne schauen, um Sehnsucht zu spüren, nicht trinken, um zu vergessen.
Ich denke das ganz entschlossen, als ich wieder den Berg hochsteige. Nach dem langen ergiebigen Gespräch mit Gabriela und Uwe, die in Werchowyna waren auf Suche nach Erinnerungen an den polnischen Großvater, aufgerührt kommen sie wieder, eigentlich unfassbar, was es an Hass, Aufgestautem gegeben hat in der Besatzungszeit, einer der etlichen Besatzungszeiten hier, eigentlich unfassbar, dass es so friedlich jetzt zugeht hier, denke ich. Immer mal wieder, während wir uns zwischen den alten Mauern unterhalten, taucht ein Bekannter von Uwe auf, hochgeschätzter Übersetzer und Essayist, der grad "Hiob" von
Joseph Roth auf ukrainisch veröffentlicht und mich vor allem damit beeindruckt, dass er sich unsere Vornamen sofort gemerkt hat und bei jeder seiner Stippvisiten ab jetzt hersagt: Gabriela, Uwe, Manfred. Die Stippvisiten enden immer sofort wieder, erstmit dem Treff eines anderen Übersetzers, mit dem er sich kurz zurückzieht, dann mit dem Einzug einer Gruppe von kanadischen Architekten, denen er die Stadt erklären soll, und als die wegsind, kommt er nochmal, um zu sagen, jetzt müsse er aber dringend los, "Uwe, Manfred, Gabriela". Ich werde das nie vergessen - nur den Namen, da bin ich einfach schwach drin,
hab ich mir nicht gemerkt.
Gabriela und Uwe haben auf ihrer Fahrt mehrere getroffen, so erzählen sie, die sich hier einen Krieg her - und die Deutschen
zurückwünschen, die endlich Ordnung bringen würden, wie schon mal. Ich kann's nicht fassen. Glauben tu ich's. Vielleicht sagt mir sowas nur keiner.
Nach dem herzlichen Abschied spricht mich ein nervöser, sympatischer junger Mann in bestem Deutsch an, bietet eine Stadtführung für 7€ die Stunde an. Mein Ruhebedürfnis ist stärker. Ich bedaure es bald, immer wieder auch unflexibel.
Junge blonde Amerikanerin im Kreis von Ukrainern am Biertisch (zu ihrer Freundin): "it's gorgeous, somewhat."

Jetzt im Sommer kann auf dem Balkon gefrùhstückt werden, damit wird das morgendliche Bufett im Dnister fast makellos, denn man kann auch der Dauerberieselung mit Jammerpopmusik jetzt gut ausweichen, stattdessen draußen den Gesprächen lauschen, hinterm Ohr, am Tisch voraus, wo zwei einander zugebeugte alte Männer Ei mit Majo, zwei Würstchen, Espresso und Wodka verzehren und verschwörerisch leises Russisch reden. Während hinterm Ohr mit lautem Bariton ein Ami sich gegen "charges" wehrt, "they ain't in the contract", und "yes", er habe das Dorf gesehen, die Schule auch, wo der Brunnen gebaut werden solle, "up on the hill", er habe auch die Kinder gesehen und habe verstanden, "I can see their point, you know", aber ohne Gebühren, wenn wir ihnen schon so entgegenkommen, "no charges" - und etwas in seiner Stimme lässt mich an Dick Cheney denken, den man angeschwollen von Reichtümern, für deren Erwerb Zehntausende sterben mussten, aus dem Amt getragen hat (so pathetisch wird sein Nacheiferer Westerwelle nicht abtreten dürfen), viel mehr aber (und gleichzeitig, bei den gleichen Worten im gleichen ruhig-bestimmten Ton) an James Cagney, wenn er einen Voranbringer spielte, den risikofreudigen Kaufmann,
Bürokratieüberspringer, einen liebenswerten Chaoten, der genau das Richtige tut, indem er Menschen nur hilft, wo es auch ganz zu seinem eigenen Vorteil ist. Den Unternehmer. Der wie Wasser die kürzeste Bahn auf dem Weg voran sucht und findet.
Es ist die gute amerikanische Stimme, aus meiner Kindheit ("Time is Money", ein Satz auf einer Werbearmbanduhr der PanAm von 1962, der meine Eltern kurz antiamerikanisch werden ließ und mich hochmodern), und hier am Frühstückstisch, von hinter'm Ohr, glaub ich ihr immer noch gerne und hoffe, wer so spricht, dem geht der Schwung zum Unternehmen nie verloren (und das Geld zum Investieren trotz der Räuberbanken nie aus). Und eins wird der nie vollbringen: Grausamkeiten aus Hass.

Montag, 7. Juni 2010

Nach Lemberg

Leichter warmer Regen in Eichkamp, wo mich Max aus dem Auto lässt, in Spandau ist er wieder vorbei. Sommer, das Sonnenzeichen in den Wettervorhersagen hier und dort, wo ich hinfliege. Dazwischen die Bilder von Fluten, die sich durch Ortschaften wälzen und alles mitreißen, was sich nicht halten kann. Dazwischen, da unten, drüber weg.

Der Zug nach Dortmund ist unverschämt voll, selbst in der 1. Klasse hab ich Mühe, einen Platz zu finden. "Montag früh, logisch", sagt die Schaffnerin. Ich verschlinge ein Rührei, es quasi auf den Knien balancierend, während die Mitreisende neben mir telefonisch die wöchentliche Büroorgamisation einer Krankenhaus - oder Krankenkassenabteilung anweist, manchmal streng, dann wieder fröhlich glucksend.
Schon in Wolfsburg leert sich der Zug. Ist VW der Arbeitgeber vieler Berliner Mittelständler, die 1. Klasse fahren? Jetzt kann ich mich ausstrecken. Mich ganz der seltsamen Bewegung hingeben, dass ich nach Westen fahre, weil ich nach Osten will. Muss mir nur manchmal sagen, dass ich nichts vergessen habe, dann kann es losgehn. Noch fahre ich so wie zum nächsten Auftritt.
In Hamm ist es kalt und wolkig. Ein Bahnhofsvorplatz mit bunten trabenden Elefanten, dahinter ein türkisches Eiscafé, wo Vater und Sohn sich an lässiger Eleganz beim Bedienen überbieten und ich ihnen mit zugeknöpfter Reisejacke, Koffer und Umhängetasche nacheifere. Kurz eh ich weiter muss, kommt tatsächlich die Sonne.
Ich meide den Bahnhof Dortmund, nehme von Hamm den Bummelzug nach Holzwickede, von wo ein Shuttle für 1,50 zum Flughafen und zurück fährt, "solang geflogen wird", erklärt der Fahrer, "zur Not auch nach Mitternacht."

Was ich nicht wusste: Dortmunds Billiggesellschaften-Flughafen liegt auf einer Hochfläche, man kann auf die Terrasse im zweiten Stock treten und hat einen Blick auf die Zechenlandschaft des Ruhrpotts bis Essen in der Ferne.
Es stürmt. Alle 10 Minuten fährt eine kleine Maschine zur Startbahn vor, blinkt lustig mit den Lichtern, nimmt ordentlich Tempo auf und klettert hoch in die Wolken. Air Berlin, Easy Jet, wizzair, solche Sorten.
Ich hätte nichts dagegen, wenn es in Finowfurt so einen Kleinflughafen gäbe statt der Riesenzentrale in Schönefeld. Ich hatte auch nichts gegen Tempelhof. Ich weiß, dass es Luxus ist, so abgelegen und still zum Fliegen pfänden zu werden. Luxus der Billigflieger, verkehrte Welt.
Ein Elternpaar, dessen 13jährige Tochter zum ersten Mal allein fliegt, steht am Zaun, und ein Großelternpaar mit den kleinen Enkeln, die nicht traurig sein wollen, dass Mama und Papa jetzt fort sind - dafür ist gerade zu viel los -, aber auch über den Abstoß der Maschine in die Luft nicht so staunen, wie die Erwachsenen sich das vorgestellt haben - dazu ist Fliegen hier vielleicht zu leise, wenn man beschirmt auf einer Terrasse steht.

Es geht auch in mir jetzt ruhig zu. Ich hab soviel Zeit. Leider kostet WLAN hier was, das hat dann St.Petersburg diesem Flughügel voraus, aber vielleicht wollen sie hier gar nicht weltläufig sein, nur praktisch und billig. Solange es nicht verboten wird.
Draußen stürmt es. Ich warte. Ich lerne das zu genießen. Einen Moment glaube ich, es so genießen zu können, dass ich den Flug verpassen werde. Dann schau ich mich nach dem Ober zum Zahlen um.
Später beginnt das Spiel in der Schlange. Ich stehe zufällig ganz nah beim Schalter etwa eine Stunde vor Öffnung, und weil sich gleich noch eine deutsche und eine ukrainische Großfamilie dazugesellen, bilden wir den Anfang der Schalterschlange. Ab jetzt geh ich da nicht mehr weg - den guten Platz aufgeben? Wellen der Heiterkeit und der Panik fahren durch und Wartende: Müssen nicht Passagiere, die nach dem 15.April gebucht haben, weniger Gepäckgewicht anbringen, ohne zuzuzahlen? Und zahlt man am Schalter nicht 60 € pro Kilo? Nützt es, jetzt im Reisebüro von wizzair auf Gutglück einen Gewichtszusatz zu buchen für 15 €? Einige rennen dorthin, andere wiegen ihr Gepäck verstohlen am Nachbarschalter, sie alle geben die guten Plätze auf.
Ich bleibe standhaft. Aber so stehe ich eben auch ein Stündchen. Um dann zu erfahren, dass im Flugzeug freie Platzwahl ist. Die Ersten werden die Letzten sein. Ich sage mir das, bevor ich im Wartesaal einschlafe, hochschrecke, als das Aufbruchssignal endlich kommt, resigniert den Pulk an mir vorbeiziehen lasse, der sich inzwischen gebildet hat, weit hinten aufs Rollfeld gehe, es ist warm geworden, leichtwolkig, mir sage: Liest du eben, statt rauszuschaun, plötzlich sehe, wie vier kecke Burschen einfach zur Hintertreppe des Flugzeugs laufen, mich ihnen anschließe, wir werden nicht weggeschickt - und hier bin ich, am Fenster in einem fast ausgebuchten Flieger!

Es geht über Nürnberg nach Tschechien, wir fliegen bei Spaethes übers Dach, ich glaub, ich seh den Burgturm von Königstein. Später, im Kopfhörer läuft grad 'Things have changed', ein Haufen dunkler Wolken, Riesenknäuel, das fast an uns ranreicht, das muss das Überschwemmungsland sein, Regengusswochen von oben, sie scheinen da festzustehen. "Lot of Water under the bridge, lot of other stuff, too".

Der Hochsommer, der sich ab der ukrainischen Grenze in klarer Sicht nach unten angedeutet hat, ist noch abends 30 Grad warm. Eh man in ihn raus darf, muss man winzige Einreisezettelchen ausfüllen, sich fragen, ob Surname jetzt Vor - oder Nachname heißt, und warten. Als ich dann am Schalter stehe, muss der Grenzer über mein 'Hier' so lachen, dass er seinen Kollegen damit ansteckt, sie wiederholen es dauernd und kichern, eine junge Ukrainerin am Nachbarschalter lacht auch, alle drei schauen mich einladend an, bis ich mitlache - keine Ahnung, was ich da grad gesagt hab...
Jacke aus, zum O-Bus Richtung Uni, ich kenn mich aus, mir macht keiner was vor, durch den jetzt von Musik durchfluteten, von Pärchen bewohnten Park, den ich noch vereist in Erinnerung habe, hoch zum Hotel, der gleiche wunderbare Blick, von den grünen Kronen einiger Laubbäume jetzt aufs Nähere gelenkt, ein Anruf zuhaus, kurzes Geplänkel mit einer Geschäftsfrau, die einen Tisch weiter telefoniert und klingt, als müsse sie eigentlich die Büroorganisation einer Krankenkassenabteilung meistern (ich frage sie danach, sie versteht mich nicht, und mir fällt ein, dass es in der Ukraine eine Pflicht zur Krankenversicherung ja nicht mehr gibt, Traum mancher regierender Raubritter bei uns), aber dann raus in die Wärme.
Wie am Mittelmeer ist es. Und langsam, ganz langsam find ich mich wieder drein, unterwegs zu sein. Diese schöne Stadt jemand zeigen, Raoulina, das wär's heut.

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