Freitag, 18. Juni 2010

Eine Stunde Wiki-Surfen

Jule Neigel verlebte ihre ersten zwei Jahre in Tiraspol, also hier um die Ecke.
Und Igor Alexander Caruso wurde 1914 dort geboren ("Die Trennung der Liebenden").
In diesem Zusammenhang: Caruso (für mich einer der wenigen großen Psychologen) arbeitete 1942 mit 28 am Wiener Kinderhospital 'Spiegelgrund' mit, wo Euthanasie betrieben wurde. Nach seinen Gutachten wurden dort qahrscheinlich mehrere Kinder getötet.
Chisinau war um 1900 ein jüdisches Zentrum, 45% der Bevölkerung war jüdisch. 1903 fand, angestachelt von der einzigen Zeitung des Orts, Bessarabez, ein Progrom statt, bei dem ca. 50 Juden umkamen, mehrere hundert verletzt wurden, zahlreiche Häuser verwüstet, Geschäfte geplündert usw. Anschließend Flucht vieler Juden. Es gab internationales Aufsehen deswegen, sogar eine Depeche von Theodore Roosevelt an Zar Nikolaus II., die unbeantwortet blieb. Im Chininauer hist. Museum habe ich darüber nichts erfahren.
Auch der 'Arbeitskreis für Psychoanalyse' in Wien hat sich erst in den Neunzigern und auf Druck der Öffentlichkeit mit der Gutachtertätigkeit seines Gründers, Mentors und Starmitglieds Igor A. Caruso beschäftigt.

Jetzt wieder raus ins Freie.

Gang und gäbe

Die hohen Stimmen, die manche Männer hier haben. Wird sowas vererbt? Werden Charaktereigenschaften damit verbunden? Gilt es als potent, weibisch oder schick? Niedlich? Vertrauenerweckend? Versteckt wird die Klangfarbe jedenfalls nicht.
Moldawisch ist wohl ein rumänischer Dialekt, es hört sich in der Biegung der Klangfarben manchmal wie deutsch an, besonders, wenn Kinder reden. Auch der Silbenklang ist oft ähnlich, also ziemlich anders als ukrainisch. Obwohl mir der klangliche Übergang fließend vorkam, das glucksende Zischen des Westukrainischen war in Odessa einem viel vokalreicheren Silbenfluss gewichen, der schon fast so klang, wie sie hier reden. Und die russischen Brocken bleiben: da, dawei, paraschut. Wenn ich nach dem Voksal frage, werde ich verstanden, bei Station oder station nicht; hier heißt der Bahnhof Gar. Rumänisch wirkt oft wie eine Leihsprache, gelesen besonders: Fumatul strict interzis. Comicsprache, Esperanto-Konkurrenz.
Ist es wirklich die römische Legionärssprache, haben die west - und öströmischen Legionäre denn ein gleiches Wort gehabt, aus dem sich dann unabhängig voneinander das Gar(e) des Bahnhofs entwickeln konnte?
Ich sitze hier übrigens vor einem Glaspalast-Einkaufszentrum namens Mall-Dovia. Das ist schon jenseits vom Bierpinsel, das schreit nach einem Freundschaftsband mit den TelTowers bei Berlin.

Während in Odessa nur eine greise Mutter ihren debilen erwachsenen Sohn ins Konzert mitnahm, sind hier richtige kleine Kinder dabei. Es ist nicht feierlich, man kann auch von der Arbeit ins Konzert gehen. Ich hätte sogar Sandalen tragen können. Nicht feierlich, eher aufgeregt, ein wenig genervt.
Dafür fehlt hier vielleicht die Eigenheit, raffinierte Kleider, funkelnder Kopfschmuck, es fehlt bei vielen auch die kennerische Routine im Zuhören. Mehrmals Beifall an falschen Stellen und am Ende ein tobender Jubel, als hätte gerade eine Mannschaft gesiegt. Die junge Dirigentin mit dem Borstenhaarschnitt rast hin und her wie beim Popkonzert.
Dabei bin zwischendrin nicht nur ich manchmal richtig weggesackt, Rossinis Ideen werden durch eine Menge Floskeln zusammengehalten (wie von Riemen), und an zwei Flügeln statt vom Orchester gespielt hört man das Füllmaterial dann noch mehr. Wie man Mörtelmasse am ungestrichenen Bau sieht.
Das heißt gar nicht, dass es schlecht war. Ich finde Enttarnung von Effekthascherei ja gut. Und eine Messe, die sich am Schwung von Opernmassenszenen orientiert, auch. Der Chor war übrigens hervorragend. Die beiden Pianisten verpassten sich manchmal, wahrscheinlich weil sie sonst solistisch unterwegs sind. Der Tenor sah aus wie der ganz junge Helmut Kohl, sein Baritonkollege wie Putin oder zumindest dessen Leibwächter. Altistin und Sopranistin hätten gerade frisch eingekleidet aus der Malldova kommen können. Dass die meisten (Männer, Frauen, beides?) bei schrillen Koloraturstimmen in Wallung geraten und nicht beim weichen Alt - mir geht's umgekehrt.
Später vor der Philharmonie, Reggaebar, völlig anderes Viertel entdeckt, süßer Wein, auf anderer Straßenseite Chormädchen, die bei ihren Parodien von Opernarien immer mehr in Extase geraten. Hier übertönt von Bob Marley, unter dem Stoffdach, auf das es jetzt leicht regnet.

Ich war im Geschichtsmuseum, bin dem Abenteuer mit Transnistrien etwas nachgegangen. Nach Lektüre und ein paar Gesprächen so etwa: Gebiet schon immer umstritten, weil Sprachgrenze zwischen Rumänisch und Russisch bzw. Ukrainisch. Also auch Mentalitätsgrenze slawisch / romanisch, wenn man es sehr groß nimmt. Zarenreich hatte, wenn es gegen die Türken die Gebiete hier besetzt hielt, immer auch Slawisierungsanspruch, nannte z.B. Moldavien in Besarabien um nach einem Adelsgeschlecht, das Russen wohlgesonnen war. Als Moldavien (wie Teile der Südukraine, z.B. Cernivci) nach dem ersten Weltkrieg zu Rumänien kam, legte Stalin eine Art Köder aus, indem er das Transnistriengebiet der Ukraine wegnahm und für autonom, aber unvollständig erklärte. Sobald dann der Hitler-Stalin-Pakt die große Umschichtung der Gegend ermöglichte, ließ er die Transnistrier (mehrheitlich Ukrainer) Vereinigung mit dem 'Restmoldavien' fordern, das bisher gut ohne diese ukrainischen Flussgebiete ausgekommen war. Am Ende des miesen Spiels - Deutsche und Rumänen hatten dazwischen die Gebiete nochmal rückerobert und gemeinsam die starke jüdische Minderheit vernichtet - stand die Deportation von ca. 20.000 Moldawiern nach Sibirien, aus Rache, ethnischem Hass, Angst vor Eigenständigkeit. In der sozialistischen Republik Moldau wurde ab sofort der rumänische Dialekt Moldauisch genannt und kyrillisch geschrieben. Amtssprache war russisch. Eine der längsten Straßen in Chisinaus Altstadt heißt '31.8.1989', warum? "Das war der Beginn unserer Sprache", sagt Stefania vom Hotel.
Als '89 die moldawische Selbständigkeit begann, waren die Nerven der vielen hier lebenden Ukrainer und Russen auf Alarm gestellt. Wie sie es schafften, dass sich die junge Republik nicht mit Rumänien vereint hat, keine Ahnung, vielleicht wollte es keiner wirklich. Aber die russisch orientierten Kombinatchefs im Südosten, in Transnistrien, der am meisten industrialisierten Ecke des Landes , haben durch den Putsch gegen die moldawische Unabhängigkeit einfach ihre Produktionsform gesichert, sie produzieren weiter erfolgreich Stahl, haben die alten Gegenseitigkeitsverträge mit Moskau und nehmen das bisschen Volk als 'sozialistische Geisel'. So klingt es jedenfalls hier. Wäre schon interessant, mal wen von da zu sprechen.
Das historische Museum hält sich detailliert mit der Staatsfindung Moldawiens auf. Die kurze Zeit des Zusammengehens mit Rumänien wird dabei als kultureller Höhepunkt gewertet. Dass in jener Zeit mit den deutschen Faschisten zusammen die Juden vernichtet wurden, davon kein Wort, nur zwei kleine Fotos. Die "faschistischen Verbrechen" erscheinen am Ende des 2. Weltkriegs wie böse Überraschungen. Und gleich setzen ja dann auch schon die Deportationen durch die Sowiets ein, die außerdem jede Menge 'Fremde' hier sesshaft machten.
Warum im hist. Museum so gar nichts über die sowjetische Zeit gezeigt würde, immerhin 40 Jahre, frage ich Stefania vom Hotel. "Nobody will remember that", sagt sie, "it was such a hard time". Die sie höchstens als Kleinkind erlebt haben kann. Das ist also schon Überlieferung.
In Odessa auf dem Trödelmarkt hab ich Stalinbilder gesehn; hier wohl undenkbar. 40 km weg in Tiraspol vielleicht gang und gäbe.

Deportationen, ein Foto: Wissenschaftler Alexei Birlsdeanu und Frau schauen vorn vorsichtig hockend unendlich traurig und misstrauisch in die Kamera, während hinter ihnen Sohn und/oder Tochter mit Partner/in stämmig und optimistisch, aber auch grob wie aus anderem Holz in die Zukunft grinsen, irgendwo in Sibirien, Neubauviertel, Kälte.

Je länger ich hier bin, desto lieber in dem kleinen Hotel. Es gibt bis 11 Frühstück. Es war erst stickig, ist jetzt, weil draußen kühl, warm und gemütlich im kleinen Zimmer. Wlan geht, Wäsche wird fast umsonst gewaschen, die Bar ist immer besetzt. Das Hotel wird geführt von jungen Frauen, wieviele, weiß ich nicht, ich lerne jeden Tag neue kennen. Erst dachte ich, Stefania ist die Chefin, aber sie spricht bloß am besten Englisch und berät kompetent, was Reiseplanung und Ausflüge betrifft. Wer hier eigentlich noch wohnt, weiss ich nicht, jede Nacht ein anderes Mädchen an der Bar und ein, zwei Männer, die am Fernseher Fussball einzustellen versuchen. Wenn man reinwill, muss man klingeln, auch tagsüber, dann kommt eine runter öffnen, warum, weiß ich auch nicht, mir kommt die Gegend nicht gefährlich vor. Gestern nacht hatte der alte Elektriker es geschafft, um die Eingangstür eine wandernde Lichterkette zu installieren, als ich sagte, dass es mir gefällt, haben sich alle gefreut. Es bringt die Namensschrift Bella Donna sehr gut zur Geltung.
Neulich, als ich frühstückte, kam ein Paar, er älter, sie jung, gingen hoch in den 1. Stock. Kurze Zeit darauf lautes Klingeln, eine auch ziemlich junge Dame außer Atem steht vor dem Eingang. Man tut so, als höre man schlecht. Sie könnte sich auch in der Tür geirrt haben. Außerdem muss man gerade das Papier im Faxgerät wechseln, das macht sich ja nicht von selbst. Als die Frau draußen resigniert gegen die Tür tritt und weggeht, springt eine der Empfangssdamen die Stufen runter, schließt auf, schaut ihr vorsichtig hinterher, schließt gleich wieder, Gesichtsausdruck: Ich hab's immerhin versucht. Aber was geht's mich an?
Was ja auch stimmt. Wenn das Ganze überhaupt so war. wie ich's aufgeschrieben hab...

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