Dienstag, 29. Juni 2010

Cunt / Fortsetzung

Ungarn, westlicher Nachbar, rückt in den Blick bei meinem langen Aufenthalt hier. Die Adelsschicht Ungarns hat knapp 1000 Jahre lang Transsylvanien 'besessen', regiert, mal direkt, mal in Schutz und Windschatten der Habsburger Dynastie. Außerdem leben und arbeiten hier Ungarn, und es gibt noch die Szekler, besonders alt ausgewiesen, quasi besonders ungarische Ungarn. Erst nach dem 1. Weltkrieg kam Transsylvanien zu Rumänien, dem kurz vorher gegründeten Staat.

"Der Bevölkerung, überwiegend Rumänen, war das wohl nur Recht", drückt ein ungarnfreundlicher Autor die Tatsache dieser nationalen Heimführung aus, wie nett. Ungarn, heißt es hier, sind furchtbar nationalistisch. Sie bewahren ihre Folklore eisern. Außerdem sind Ungarn Machos. Aber Ungarn sind auch die Gehobenen, Kulturmenschen. Ihr Reichtum ist alt, während der der städtischen Rumänen in den letzten zwanzig Jahren entstand, also protzen sie mehr damit.

Die Rumänen, jedenfalls in Transsylvanien, so mein Eindruck, waren lange die Arbeiter, Tagelöhnermasse, anzuleitendes Volk. Ähnlich wie die Ukrainer ein Land weiter nördlich, auch sie geschickt ruhig gestellt von der Habsburger Administration, die Rolle der Ungarn nahmen dort die Polen ein. Beide Male interessant, wie Nazideutschland sich als
Verbündeter der Unterschicht aufspielen konnte, bis es die Maske fallenließ - Hitler/Stalin - Pakt, Slawenvernichtung.

Ich sitze auf der Veranda des Restaurants, alle schlafen, Pferde, Grillen und irgendwo der dicke Nachtwächter, das Wetter ist anscheinend umgeschlagen, 10 Grad wärmer plötzlich, alles lebt auf unterm Sommernachtshimmel, was hab ich mich in den 5 Regentunnelnächten danach gesehnt!
Die protzigen Großstadtrumänen kommen hier ins Lokal und die adligen Ungarn auch. Es liegt an Jonas' hervorragender Küche, die Empfehlungen in Gourmetmagazinen und auf angesagten Netzseiten gebracht hat. Einmal soll die inoffizielle Kronprinzessin der ungarischen Königsfamilie dabei gewesen sein, ein kleines Kind, vor dem auf der modrigen Dorfstraße dann ein paar ungarischstämmige Dorfbewohner plötzlich auf die Knie fielen und ihm die Hand küssten. Dem Kind soll das gar nicht ungewohnt gewesen sein.

Vorgestern war der Forstverwalter einer ungarischen Adelsfamilie mit Besitz im Rumänien zu Besuch, ein anregender deutscher junger Mann, genannt Benze, mit seiner rumänischen Freundin, die als Architektin hofft, bald in Berlin zu arbeiten. Es wurden sofort Witze über Rumänen und Ungarn gemacht. Ein Paar aus Bukarest, das am Nebentisch saß, kriegte das meiste mit, mir war das unangenehm, als einzigem, glaub ich. Ich gebe zu, vom Bukarester gedacht zu haben, er sei so ein protziger Neureicher mit seinem Off-Roader, dem Rennrad, dem kleineren Allrad zuhause, von dem er erzählte, für Geländetouren mit Freunden, mit seinem "unfortunately Yes" auf meine Frage, ob das grad eine Zigeunersiedlung gewesen sei am Ende eines Dorfes, an dem wir vorbeifuhren - aber dann las ich seine Eintragung ins Gästebuch auf Englisch, so zart und schwungvoll ("what can you write into a guestbook, if you were treated as a friend?"), und meine Voreingenommenheit zerstob.

Besagter Benze hält es für einen volkswirtschaftlichen Vorteil, dass Wald Privatbesitz bleibt bzw. wieder wurde, und hat als Gegenbild den korrupten rumänischen Staat vor Augen. Dass Korruption hier die Ausgangslage ist, sagt jeder. Wobei es vielleicht einfacher ist, bei einer Bürokratie Fehler zu finden als bei einer womöglich menschlich zugeneigten oder charismatischen Besitzer-'Familie'. Ich selbst halte eigentlich das Erbrecht für die größte Korruption, denn es gibt Menschen Macht, die dafür nichts leisten mussten als geboren zu werden. Mit der Meinung steh ich allein, wie ich weiß.
Der ungarische Adel in Rumänien wurde übrigens nach 89 voll entschädigt oder wenn gewünscht wieder ins Besitzverhältnis gesetzt. Trotzdem nage ein bitterer Zorn über die schleichende Vernichtung des Ungartums an seinen quicklebendigen Exponenten, sagen leicht genervt Ulrike, Jonas und Benze.

Vielleicht prägen aber die Zigeuner dieses Land mehr als angenommen. Beim Rumfahren mit dem Mietauto kommt es mir so vor. Bizarre Gestalten, jung, alt, hell, dunkel, man lagert vor den Häusern, hängt an den Brücken rum. Viele Rumänen wären gar nicht registriert, erzählt jemand, viele Zigeuner geben sich als Sachsen oder Ungarn aus.
Statistiken relativieren sich, Schwarzarbeit liegt so nah. Die rasende, durch Schlaglöcher kontrollierte Kette der Autos wird demütig langsam, wenn ein entgegenkommendes Fahrzeug blinkt. Dann ist Polizeikontrolle zu erwarten. Ist die vorbei, wird gleich wieder gerast. Es geht nicht so dumpf bretternd zu wie in Moldavien, aber man kann nie entspannen, schon wegen der Schlaglöcher nicht, die hier nach glatter Fahrt über Kilometer als plötzliche Vertiefung, echtes Loch, auftauchen, einen anspringen. Reifen kollern ab, ich hab's gesehn.

Fahrt nach Hermannstadt, Sibiu. War 2007 europ. Kulturhauptstadt, dementsprechend hinweisfroh und mehrsprachig beschildert ist alles irgendwie Alte. Tourismus blüht selbst in dem widerlichen Nieselregen, in dem ich ankomme und mir einpräge, wo das Auto steht. Detail bei der Stadtpfarrkirche: die Orgel von 1915 stammt von der Firma Sauer aus Frankfurt/Oder, mit der auch Hanns Henny Jahnn ein paar Jahre später zusammearbeitete, und war eine ihrer ersten elektropneumatischen Werke.
Besonders hübsch: Die Piata Mica, der 'Kleine Ring', Marktplatz der Handwerker. Voll Cafés jetzt, freundlich und preiswert. Ich streife das offensichtlich deutsch geprägte Musiklokal Hermania, ein Saal mit Kamin, Instrumenten, einer 'Willkomens-Tafel', Kellnern in Tracht und penetrant deutschem Schlager über die Boxen, 'Das Fass ist leer' usw.
Dann ins Völkerkundemuseum 'Franz Binder', der im 19. Jahrhundert hier als Apotheker lebte und eine Weile österreichischer Konsul in Khartoum war. Fing an, Kult - und Kunstgegenstände vom Nil zu sammeln, gründete eine ethnologische Gesellschaft in Hermannstadt, Grundlage des Museums, das später mit anderen Einrichtungen tauschte und seit 1993 auch Geschänke afrikanischer und asiatischer Staatschefs an Ceauscescu mit ausstellt. Ein Sammelsurium. Mich führt sehr nett ein älterer Herr mit rudimentären, stark dialektgefärbten Deutschkenntnissen (ich verstehe halb, dass er sich die auf einer 'sächsischen' Schule in der Kindheit erworben hat, selbst aber Rumäne ist), der mich von Raum zu Raum mit leisen Rufen lockt wie: "Schau! Alt, särr alt, fürr Frau, zu Schmuck. Hals. Särr eng! Von Ceauscescu." Mit einem sanften ironischen Lächeln immer. Die Ausstellung mündet in der Präsentation einer echten ägyptischen Mumie aus ptolomäischer Zeit samt Beschreibung der Tochter des Konsuls, der sie 1905 einem anderen Ausgräber in Luxor wegschnappte bzw. in letzter Minute gegen eine, "die stank", zurücktauschte. Dieser Brief und die lächelnden Bemerkungen meines Führers kontrastieren aufs Angenehmste mit den großen Themen, unter die das Museum seine Sammlung stellt: "Reglosigkeit. Die Haltung dem Tod gegenüber." Oder: "Die possessive Geste. Aquisition und Aggression."
Ähnliche Überschriften gab es auch im Museum zu Chisinau - eine Generation postmoderner, strukturalistisch geformter Ethnologen ist in den Chefsesseln gelandet, weltweit wahrscheinlich.
Rückfahrt an der Wehrkirche von Birthälm vorbei, ab hier ist wieder Sommer, Menschen stellen Bücher nach draußen mit Geschichten und Filmen zum Thema Siebenbürger Sachaen, und reden in einem halsbrecherischen Uraltsüddeutsch miteinander, dass es eine Freude ist, Mäuschen zu spielen und zu lauschen (das schnell angeknippste Handy nimmt leider zu dumpf auf in der Jacke). Der Kirchgang selbst wird ein bisschen verleidet durch zwei laute Bildungsschichtler reichsdeutscher Provinienz, die hier alles kennen, besser wissen als die Einheimischen und vor allem, hätten sie nur die Zeit dafür, alles auch besser in Schuss hielten. Aber sie müssen ja Schulen leiten in Niedersachsen und Schwaben - wer, wenn nicht sie?

Während Deutschland gegen England anspielt, durchquere ich das Nest Scharosch an der Kokel, einst deutsch, jetzt Zigeunerdorf. In der Abendsonne liegt, fläzt alles vor den Häusern, ausgespuckt wird, cool gewinkt, vor dem Auto mit Hüftschwung einherstolziert. Bisschen später Straßenstände mit Kupferkesseln, kleinen Handkaffeemaschinen, Besteck. Wildbärtige Gesellen, aufgeregt winkende Frauen. Irgendwas hält mich ab, zu halten, der Verkehr, Sorge um das Mietauto, meine Unfähigkeit, Nein zu sagen?

Hier ein paar Ausschnitte aus dem Buch von Franz Remmel über die rumänischen Roma:
"Die Zigeuner nehmen an, sie hätten ein Vorrecht auf Ostern. Der Sage nach haben ihre Vorfahren die Nägel geschmiedet, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Um aber die Pein des Herrn zu lindern, haben sie einen der Nägel gestohlen. Weil nur noch drei Nägel übrig waren, legten die Häscher Christus die Füße übereinander und
schlugen beide mit einem Nagel an."
"Gegen den neugewählten Bürgermeister demonstrieren die Roma in Târsa/Kreis Alba. Als Gegenleistung für die Unterstützung seiner Kandidatur hatte er jedem Roma-Wäeine einen Sack Kondome versprochen. Die Stimmenmehrheit hatte der Kandidat erzielt, aber die Kondome kamen nicht."
"Mehrere rumänische Eltern schwächerer Schüler haben sich als Roma erklärt, sich in Romaorganisationen eingeschrieben und eine Bescheinigung über ihre vorgetäuschte neue ethnische Zugehörigkeit erbracht. Grund dafür war die bevorzugte Möglichkeit für Romakinder, sich auch mit kleineren Durchschnittsnoten als gefordert in namhafte Lyzeen einzuschreiben. Für Romakinder sind in Bukarest 1400 Plätze im Schuljahr 2004/05 reserviert. Vermutlich werden aber nur 800 besetzt."

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