Freitag, 25. Juni 2010

Zwischenbericht Cunt

Nachts sternklarer Himmel, aber die Bewölkung bleibt. Der Rhythmus auch, der angefangen hat, als ich hier mein Zimmer bezog: man hat den Tag für sich; umrahmt von einem prima Frühstück mit warmen Brötchen, Obstsalat und scharfer Salami (um nur eine kleine Auswahl zu nennen) und einer krönenden Abendmahlzeit (Jonas ist ein hervorragender Koch geworden) kann man herumspazieren, lesen, schreiben, reiten, Bogen schießen. Man kann nicht weg, es sei denn, man wird mitgenommen. Es gibt kein Handynetz hier, das wlan ist langsam und verschwindet manchmal ganz. Ich muss mich zur Ruhe ermahnen. Schreib, sag ich mir. Lies. Wandere.

Ulrike und Jonas beschwören die 60-70 Gäste, die sonst hier sind, sonst eigentlich immer hier sind, dann muss es im Gastraum und auf der Veranda eng sein, jetzt wirken sie überaus großzügig auf mich, allein mit einem rumänischen Paar und einem deutschen, die aber weitab in einem der ca. zehn Gästehäuser im Dorf wohnen. Mit ihnen wurde vorgestern Fußball geguckt, die junge Frau wurde plötzlich ohnmächtig, ihr Mann sagte, das passiere schon mal, Ulrike als ausgebildete Krankenschwester sprach von einem epileptischen Anfall, der Mann meinte: "Eigentlich nicht", und Jonas sagte leise entsetzt: "Sie ist mir neulich noch im Auto entgegengekommen. Am Steuer." Ich merkte mal wieder meine Hilflosigkeit bei solchen Gelegenheiten. Nach ein paar Minuten war die Ohnmacht vorbei, das Thema wurde von allen vermieden.

Leider sind die beiden deutschen Bukarester mit ihrem Kind am zweiten Tag abgereist, mit ihnen konnte man über die Zeit weg zwischen den großen Mahlzeiten kleine Plauderviertelstunden einlegen, je nachdem unverbindlich oder nachhaltig, sich über das Sozialsystem hier informieren, die Zerrissenheit der SPD streiten, den Umbruch im Urheberrecht referieren.

Das soziale Gefälle am Ort, im Gästehaus und in den Erzählungen von Ulrike und Jonas ist gewaltig. Hier tauchen amerikanische Militärattachees samt Damen auf und Vermögensverwalter der Habsburger und werden von einer Mibesitzerin empfangen, die aus dem linientreuesten DDR-Elternhaus stammt und in der linkesten PDS-Ecke aktiv war, hier leben gestörte und zurückzuführende Jugendliche aus Deutschland, arbeiten rumänische, sächsische und ungarische Küchen- und Hauswartskräfte nicht unbedingt im Frieden miteinander - zu früh, es besser zu verstehen.

Gestern traf ich auf einer Leiter stehend, umringt von ein paar Dorfbuben, den dichtenden Malermeister Theobald Fuchs, den ich zuletzt vor ca. 15 Jahren in Steinberghaff an der Ostsee gesehen hatte, plötzlich damals aus Deutschland verschwunden, im Clan eines Hasadeurs zum Pädagogen ausgebildet, nach einer Odyssee in verschiedensten Kinderhäusern von Jonas' Vater, der in Cunt Hilfe brauchte, hierher gebeten - "jetzt fahre ich nach Deutschland nur noch, wenn ich muss." Eine andere Art Heimkehrer, der gerade Besuch von Tochter und Exfrau hat. Alt geworden, unverändert, wenn man eine Weile redet.

Von ihm erfuhr ich auch, dass ein paar Fakten aus meinem vorigen Abschnitt falsch sind. Noch unter Ceauscescu, seit ca. 1980, wurden die Siebenbürger Sachsen von der Kohl-Regierung hier rausgekauft, und zwar mit Gewinn für den rumänischen Staat, der ca. 3000 DM pro freigegebenem Kopf bekam. Man achtete sehr darauf, dass Gutausgebildete zunächst in Rumänien ihre Fertigkeiten einsetzten, aber wenn ein Antragsteller nicht mehr gebraucht wurde, bewilligte man seine Bitte und gab ihm oder ihr dann drei Tage Zeit bis zur Abreise. Dementsprechend wurden unqualifizierte Siebenbürger Sachsen zur Ausreise gedrängt, um dem Staat die Kopfprämie zu ermöglichen.
Also revidiere ich mein Urteil über die Gierigkeit dieses Volksschlags, wage aber ein anderes: Der Deal mit Menschen und Geschichte hier war kein Ruhmesblatt der Regierung Kohl. Eher: An etwas drehen, um Geschichte zu 'machen'.

Vorgestern fuhr ich mit nach Schäßburg, mittelalterliche siebenbürgische Pracht, ein Regentag wie in Rothenburg ob der Tauber, in Capes gehüllt wie in meiner Kindheit die Besucher, viele Deutsche natürlich, man macht sich lächerlich, wenn man in miserablen rumänischen Brocken bestellt und wird auf deutsch korrigiert.
Schäßburg, Sigishwara, zieht sich am Berg hoch, unten der moderne Ort, auf halber Höhe Markt und Klosterkirche, Hauptkirche der Sachsen, die hier noch leben. Eine Liedertafel ist aufgehängt: "Beichtlied, Eingangslied, Einigungsspruch, Bittruf, Lobpreis, Hauptlied, Glaubenslied, Predigtlied, Schlusslied".
Die Wehranlage von Schäßburg umschließt das mittelalterliche Gebiet mit "Stundturm, Gerberturm, Zinngießerturm, Seilerturm, Fleischerturm, Castaldo Bastei, Kürschnerturm, Schneiderturm, Schusterturm, Schlosserturm, Kurtinen", so steht's auf einer Infotafel der EU, alles erhalten.

Die Bergkirche ganz oben, zusammen mit der deutschen Schule, ist die älteste. Vor der Schule mahnt ein Schild auf deutsch uns Touristen, nicht die Toiletten der Lehrer und Schüler zu benutzen. In der Kirche interessant die sog. 'Henndorfer Truhen', kommodengroße Vorratstruhen aus einer Wehrkirche, jahrhundertelang für Notzeiten immer frisch aufgefüllt mit Nüssen, Honigwaben, Kernen von getrocknetem Obst, Zuckertüten usw. Man kann an dort verlorenen Münzen nachweisen, dass sie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Gebrauch waren. Dann wurden die Truhen zurückgelassen beim Exodus der Ortsbevölkerung in den 80ern. Umgestaltung durch Natur anschließend, Wespen, Spinnen, Schadinsekte wurden tätig.
Von der ungarischen Möbelanalytikerin und Ethnografin Klara Csillery alarmiert, wurde 2003 ein Rettungsprojekt gestartet, Schüler des Fachbereichs Konservierung und Restaurierung der Fachhochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim analysierten die Truhen samt Inhalt einmal lebensmittelchemisch, in Richtung der
ablaufenden Veränderungsprozesse, einmal kunsthistorisch-chemisch, nämlich in Richtung Farb - und Musterrekonstruktion der Truhen. Die Ergebnisse stehen in Museum und Kirche.
Mir schlägt das Herz bei solchen tollen verwertungsfreien Forschungen!

Ich lese über die Zigeuner. Ihre Hexenheiraten, publicitypfiffigen Frühehen, Könige, Gegenkönige. Als zwei Roma-Abgeordnete 2004 den König Florin Cioabã der Schieberei und des Menschenhandels bezichtigen und ihre Erwartung äußern, er werde demnächst zurücktreten, antwortet der im Interview: "Erwarten kann man viel. Auch ich erwarte, die beiden demnächst als Exponat in einem Schaukasten des Naturkundemuseums zu bewundern." (Quelle: Franz Remmel, Die rumänischen Roma in Daten und Fakten, Editura Banatul Montan, Resita 2007)

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