Freitag, 2. Juli 2010

Cluj letztes Mal

Cluj, gesprochen Klusch, Klausenburg oder Kolozsvar, eine jahrhundertelang halb sächsische, halb ungarische Stadt, später Sitz der nationalen ungarischen Bewegung, erst um 1960 bekam es eine mehrheitlich rumänische Bevölkerung. Die Ungarn hatten zu Hilfe der Nazis vorher ca 16000 Juden in Lager verfrachtet (und selbst vernichtet?), waren nach Einmarsch der Roten Armee dann selber geflohen, und erst die Industrialisierung der Uni - und Verwaltungsstadt hatte landflüchtige Rumänen reichlich nachziehen lassen. 1974 bekam die Stadt noch den Zusatz 'Napoca' verliehen, nach der römischen Siedlung, die hier bestanden hat.

Die sehr nette junge Beraterin im Tourist-Infoshop, die sich so freute, als ich, der natürlich mit Englisch angefangen hatte, plötzlich 'zwei' sagte ("ach, man hat zwei Fahrten auf einem Ticket?" - "zwei?, ach, dann sprechen Sie deutsch?!" ), schrieb mir ein paar rumänische Floskeln auf, wir lachten viel und schauten uns in die Augen, bei irgendeinem Wort sagte ich übermütig: "klingt wie ungarisch", sie stockte, dachte wahrscheinlich: der meint das nicht so, und sagte sehr entschieden: "Nein."

Cluj liegt genauso weit weg von Bukarest und Budapest wie von Belgrad. Würde ich morgen nicht nach Dortmund zurück - und 'hoch'fliegen, könnte ich mir einen Bus nach Serbien suchen, das würde zu dieser Reise gut passen. Cluj ist Unistadt, Handelsplatz, nachts in den alten Gemäuern haben Clubs auf mit neuester Elektromusik, tags spielen Gypsymusikanten, ich trudelte abends in eine riesige, matt beleuchtete Bingohalle, aß billig Leber mit Krautsalat, wurde von der bisschen bedudelten Kellnerin fast mit der Vorsuppe überschüttet, "komm wieder, morgen", sagte sie zum Abschied.
Überhaupt sprechen viele deutsch. Als ich mit einem frischen Unterhemd im Kaufhaus an der Kasse stand, meinte die Verkäuferin, ohne vorher mit mir gesprochen zu haben: "Zu groß, ist zu groß", und gab mir ein kleineres.
Sachsen kommen zurück, manche waren nie weg, zwischen der Zeit, wo sich die Mädchen Nylonstrümpfe auf die Beine malten und bestenfalls nach Moskau kamen oder Ostberlin, und den Jahresstipendien in Stockholm, Melbourne oder Mexiko-City jetzt ist ein Riesengraben. Dreißig Jahre, wie wenig Zeit...

Cluj ist wohlhabend. Kanada wirbt hier wie in Moldavien mit Emigration, aber hier ist Europa nicht nur mit Fahnen an Häusern präsent. Eine Busfahrt kostet sieben mal soviel wie in Chisinau, und es wird als billig empfunden. "In Budapest kommt der Preisschock", sagt Jonas und meint den Flughafen bei Zwischenstopps - hier vielleicht ist schon ein bisschen Budapester Vorgarten. Hochsommer jetzt, ich sitze am Springbrunnen mitten in der Stadt, eine Uniabschlussclique feiert sich und fotografiert sich in allen Konstellationen, zwei missgelaunte jüngere Frauen betteln, neben mir auf der Bank probiert ein alter Mann sein neues Handy aus. Mittagshitze, hinter mir der Palast der Banffis, ungar. Adel, einer von vielen Palästen, die sie zurückfordern gerade.

Einer der Banffis hat in den 30ern einen dreibändigen historischen Schinken geschrieben, der um 1920 spielt und sich wunderbar liest, jedenfalls auf Englisch, schreit nach Übersetzung auch ins Deutsche, und nach Film, ich habe ihn gerade in Cunt angefangen zu lesen. Jetzt kommen neue Doktoranden, mit Käppi und Robe, fallen fast in den Springbrunnen.

Zu dem Ball, den Ulrike, Jonas und Benze in genau einem Monat hier bei Cluj, Kolozcvar auf einem Schloss organisieren werden, hat Prinz Charles soeben zugesagt. Ich denke an die schöne Kutschfahrt, die wir vorgestern noch gewagt haben, haarscharf vor einem Gewitter in die verlassene Staatsplantage voll mit Apfelbäumen, zahlreiche Hektar. Ein einsamer alter Mann bewacht das Ganze, 700 Menschen haben hier gearbeitet, es war jetzt wunderbar still dort, 'was für Leben muss hier gewesen sein'', dachte ich.
Keiner erntet mehr.
Herrlich heiß, und zum ersten Mal seit Odessa nicht schwül dabei. Mein letzter Tag, ich mache mich auf den Weg.

Es grollt dann doch von fern. Friedhofspaziergang, Villen mit Chauffeuren, dazwischen aber auch windschiefe Häuschen mit ganz viel Kinderspielzeug davor. Windspiele und Straßenköter beschnüffeln sich. Dann der Botanische Garten, hier direkt an die Universitatule angeschlossen, wirkt eng und verwissenschaftlicht, weitet sich aber und wird zum Irrgarten. Japanischer Teich, Wildwasser, tiefer Wald, Kunstfelsen und geheimnisvolle Statuen. Da kann Chisinau nicht mithalten. (Auf der Ausfallstraße vorhin ein großer komfortabler Bus nach Chisinau, er wird ca.14 Stunden fahren, jetzt ist es 18 Uhr, gegen 6 ist er an der Grenze. Ich seh den Anfang der nächsten Reise vor mir.)
Dann doch ein kleines Gewitter, ich war grad im Aussichtscafé, sie packten dort hastig zusammen, jetzt Stadtnacht. Sehr ähnlich wie in Lviv, was zum angenehmen Eintauchen. Ich breche ab, um von dem Abend noch was zu haben. Verschreiben kann ich die Abende immer noch.

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