Donnerstag, 25. März 2010

Cernivci 2

Mittwoch mittags in Lviv, ein Kunstcafé, das mir Uwe von Seltmann empfohlen hat, smoother Pianojazz am Ende einer Gasse, Waldtee mit Honig, draußen im Schatten, denn schon ist es wieder möglich und zum Schreiben praktischer als in der Sonne, einen vollen Tag ist sie bereits da. Hat den Eintageherbst in Cernivci gut überstanden. Lemberg doch näher an unserm Leben, denke ich, was Andreas vor anderthalb Jahren in Lublin fand: so westlich alles, das gilt hier auch. Für Cernivci aber schon nicht mehr so. Und wie würd ich's finden, wenn ich gerade aus Dniepropetrovsk wiederkäme? Dann wäre Odessa wahrscheinlich noch fast wie zuhaus. Auch ein Effekt des Reisens: Man bringt sein Heimatgefühl dorthin mit, wo man sich einigermaßen vertraut fühlt. Das wiederfindet, wovon man eigentlich wegfahren wollte.
Odessa ist jedenfalls von hier aus im Nachtzug/Viererabteil für 20€ zu erreichen, der freundliche Herr vom Touristenbüro würde es buchen, ich müsste also nicht mal mit Schalterdragonerinnen streiten, das ist schon mal ein Plan.
Alte Frauen auf dem Markt bieten Kätzchensträusse an, es muss mit Ostern zusammenhängen. Der Smooth-Jazz dreht jetzt etwas manisch ab.
Ein kleines Gespräch am Tag, das sollte reichen. Ein kleiner Strauss Kätzchen.

Blick auf Cernivci von hier aus: In diesem sympatischen Restaurant werden Wodkas in 30-Gramm-Größen angeboten, im 'Bukowina', als ich einen Kleinen, maleiko, bestellte, musste ich dem Nachtkellner noch mal extra 'fifty!' einschärfen, er hätte sonst automatisch 100 Gramm eingegossen. Und grinste. Kannte er natürlich, diese Westeuropaer-Vorsicht.
Das ist Cernovski, die russische Stadt.

Auch die Deutschen mussten Tschernowitz 1939 Hals über Kopf verlassen, 50 kg Gepäck pro Person, das war Teil des Hitler-Stalin-Pakts. Hatten sie sich für die Faschisten schon dadurch entwertet, dass sie in einer so judenreichen Stadt lebten? Wieviele Freundschaften, Mischehen gab es eigentlich, gemeinsame Schulen?

Im Kunstmuseum sind Bilder von Augusta Kochanovska vom Ende 19. Jahrhunderts zu sehen, vom Leben der Huzulen, sie schrieb außerdem Aufsätze zu dem Thema in deutsch, z.B. über einen Viehmarkt in Wiżnitz (Werchowyna?) , Zeitschrift für österreichische Volkskunde, 1902. Malte auch städtische Salonbilder, auf denen man sieht, wie schon damals hier die selbstbewussten Mädchen in hochhackigen Stiefeln herumliefen. In einem Gespräch zwischen Uwe v. Seltmann und dem uralten Tschernowitzer Literaten Josef Burg behauptet der, in seiner Jugend hätten die Huzulen jiddisch gesprochen. Auch Herbert Ulrich hat von den Wechselbegegnungen zwischen Huzulen und Chassidim erzählt. Was ging vor, was ist noch da? Und was geht durch Gewalt, Umsiedlung, Vernichtung vollkommen verloren?

Die kleine Literatengruppe von 1934, Rose Ausländer, Helios Hecht, Itzik Manger, Somhe Schwartz, alle Anfang Zwanzig, sieht auf einem Foto im Museum nicht viel anders aus als eine von Caféhausgängern jetzt. Auch in Paris und New York laufen Eingeweihte rum und suchen Spuren eines kaum noch spürbaren legendären Geisteslebens (gerade in einem Interview mit Patti Smith gelesen, die ungefähr sagte: In dem Kellerclub, in dem Dylan Thomas ein Gedicht skizziert hat, ist jetzt das Klo eines Starbucks, und wir haben hier nicht soviel Geschichte, dass wir sie leichtfertig vernichten könnten).
In Tschernowitz war soviel davon, dass sich wohl nie einer gescheut hat. Mit Kultur aasen: die Rache der Unvermittelten ist es immer gewesen, dann leeren Tisch zu machen. Diese idiotische Illusion, dass das ginge. Aber auch unvermittelt wird man erst gemacht, nämlich für kulturlos erklärt, nicht einbezogen, außen vor gelassen. Je länger ich durch die Fabelarchitektur gewandert bin, gestaunt habe, taumelnd (manchmal vor Lachen), desto weniger Sympathie, ich geb's zu, blieb mir für die Rekonstrukteure des Vorher, die in gut präparierten Grüppchen die Stadt durchkämmen, auf Gestern aus sind und nichts als das. Die orthodoxen Kirchen, so voll, so benutzt, sind ein Teil von Cernivci wie die Pracht, ihr Verfall, das Verkehrschaos und das schlecht geklotzte, armselig wirkende Sozialbaubemühen der Sowietarchitekten auch. Ich war jetzt dort, wo das alles seinen Platz hat. Leben. Life only.

Abend. Gleicher Ort wie vormittags, nur dass der Klavierjazz jetzt live ist und drinnen, und in einer Nische sechs junge Männer regelmäßig laut loslachen. Ich denke an die kleine Bar auf der ehemaligen Herrengasse in Cernivci, wo Larrissa arbeitet ("Larjissa"), die dort Sport und Geschichte studiert, lieber in Kiev wäre, noch lieber in Edinburgh, wo sie nach dem Abi mal zu einem Austausch war. Kommt aus dem Grenzgebiet zu Moldavien. Geschichte sind Fakten, Zahlen für sie. Gefühle, Tradition? Ich solle mal nach Moldavien fahren, that's a strange feeling there, sie ist froh, dass die Ukraine diesen Punkt überwunden hat, das Zaudern vor der Verwestlichung.
Hat sie? Was ist das eigentlich für ein Land, ich habe keine Ahnung. Jedesmal, wenn sich neben mir in einem Bus die Leute bekreuzigen, weil eine Kirche passiert wird oder nur ein Heiligenbild, und egal, ob jung, alt, schick oder ungepflegt: alle bekreuzigen sich - bin ich irgendwie gerührt, und mokiere mich irgendwie drüber. Über - und unterlegen. Wie vor 30 Jahren in Griechenland, wo die gleichen alten Kopftuchfrauen mit Zweigen die Strasse gefegt haben.
Keine Schlussfolgerung. For safety, sagt die Studentin, kein Wunder bei den Straßen.
Gumperz - 25. Mär, 18:55

Fragen

Kwer scheint des öfteren denselben Ort zweimal aufzusuchen. Ist das Methode?
Immanuel Weißglas: Wird er erwähnt? Erhält man auch seine Spuren? Paul Celan, meinen einige Kritiker, sei in ebendiesen gewandelt.
Die kleine und die große Tradition? Ich vor über vierzig Jahren in Neapel, Goethe vor mehr als 220!

quer - 25. Mär, 19:23

Nein, von Weißglas hör ich zum ersten Mal (wie von vielem), tauchte weder in den Broschüren noch im Museum auf. Aber es gibt kein Museum des literarischen Lebens in C.

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