Freitag, 19. März 2010

Ins Gebirge

Der Gutwetterstrahl hat die Nacht nicht überstanden, wieder grieselt es und schneit. Erstaunlich geordnete Einrichtung der Reisegesellschaft im Bus, bis kurz vor Abfahrt zehn markige Pelzmützenmänner hereinstürmen, uns Eingestiegene von den Plätzen stöbern, indem sie vorgeben, Platzkarten zu besitzen. Da kann ich aber ganz stur werden: wüsst ich nicht, hier mein Ticket, versteh kein Wort, hab gutes Geld für den Fetzen bezahlt. In dieser Pose hilft mir mein Fremden-Status schon zum zweiten Mal, das geht alles wortlos, sie lassen mich in Ruhe. Am Fenster. Es geht hangaufwärts durch Villengärten. Plötzlich fühl ich mich wie in Soughia, wenn ich alle zwei Wochen mal nach Chania gefahren war, in die Großstadt, es war manchmal genau so kalt. Vor 31 Jahren. Nur dass diesmal das Unbekannte erst kommt, versuche seinen Charakter an Zeichen abzulesen, das gelingt natürlich nicht. Die Pelzkappenmänner steigen schon wieder aus, soviel Unruhe für so wenig Fahrt. Sie haben ihre Skier in Plastikschürzen verpackt dabei, hinten eingelagert, wo auch mein Koffer verstaut ist. Jetzt wird meine Sorge, der könnte nach draußen geraten, Absicht oder nicht, dann war's das eben. Verbiete mir, mich für das Liebste in diesem Koffer entscheiden zu müssen, das mir verloren gehen könnte. Zwinge den Blick raus durch die verwaschene Scheibe. Ein wunderschönes Synthipoplied aus der Fahrerbox tut mir gut. Draußen alte Sowiet-Freizeitheime namens Kollege oder Patriot. Im Bus möglichst nicht gradeaus zum Fahrer gucken, es rast immer gerade jemand auf uns zu oder eine vereiste Kurve kommt, und alle Instinkte schreien vergeblich nach Abbremsen. Könnte ich sonst so gottergeben sein wie gegenüber diesem völlig zufälligen Busfahrer, ich wäre glücklicher. Kann man glücklicher sein?

Die Orte sind jetzt ärmlicher, die Schneepiste lädt den Fahrer, der hier wohl zuhaus ist, zu Schlidderspielen ein, die sich nur noch als Überholmanöver tarnen.
Ein paar Holzhäuser, paar ärmliche Stände mit Fischen und Nüssen, weiter weg eine prächtige russische Kirche aus Holz, Busbahnhof Werchowyna. Wieder als letzter rausgestolpert, kommt eine große Frau im Mantel, etwas jünger als ich, auf mich zu, "ich bin Anna", wir verstehn uns erstmal gleich. Auf durchlöcherter halbgefrorener Hauptstraße durch den Ort, Autos rasen die Fußgänger an die Ränder. Wie das heißt, fragt Anna und zeigt nach unten, Matsch sage ich, sie lacht. Sie nutzt mich aus zum Deutschauffrischen, ich versuchs umgekehrt auch und lerne priapo = geradeaus.
15 Minuten lang, dann sind wir da, Haus und Gästehaus, aus Holz und wohnlich, erst wirkt es warm,aber die Kälte zieht immer wieder ein. Noch vor kurzem waren hier -30 Grad, "Leben hier ist immer harte Arbeit", meint Anna, schon das ewige Holzschlagen zum Heizen der Öfen, sie wundert sich, warum ich gerade jetzt gekommen bin. Ich wundere mich auch. Aber der Blick aus dem Fenster auf die Kuppen ist märchenhaft, das Essen lecker. Maiseierbrei mit huzulischem Brot.

Dann gehen wir Roman Kumlik besuchen, den preisgekrönten Musiker, der 30 Instrumente spielt, huzulische Musiken tradiert, Volkskunst sammelt in seinem Privatmuseum, zwei Räumen im ersten Stock seines Hauses. Der ältere Herr erwartet uns in Schale, gestickter Festjacke über der Lederweste, und präsentiert mit kurzen Melodiebögen die Instrumente, Geigen aus einem Ast gehöhlt, Signalhörner, die über Berge weg von Tod und Hochzeit benachrichtigen, eine Cimbal, wie ein Hackbrett geschlagen, aber (huzulisch) ohne Metall an den Klöppeln, mit wunderbar weichem in die Tiefe reichendem Klang, eine Lyra, zu deren Borduntönen er mit den Tasten Melodien improvisiert und dann erst tief, dann hoch eine Ballade singt. Flöten jeder Art, auch solche, die mehrere Töne gleichzeitig spielen, wenn man es kann, eine sogar in Sechsten und Terzen gestimmt, und eine, die eigentlich ein Knüppel ist und nur vor der Polizei als Musikinstrument getarnt wird. Der Meister zeigt auch Hochzeitskleider, Stickereien, Gebirgsschuhe, er geht geschäftig durch seine Sammlung, ein bisschen ist es wie bei dem alten Partisan in Norditalien letztes Jahr, er hat diese Runde mit Besuchern oft gedreht, kennt die Wirkung. Er bricht die Klangbeispiele immer geradezu zackig ab. Bis er am Ende auf einem Ziegendarm zweistimmig bläst, das ist ein so greller, gleichzeitig weicher Klang, dem hört er nach und lässt leise mit dem Spielen die Luft raus. Jahrhunderte alt, gerade geschehn.

Einkaufen mit Anna, es wird alles zu teuer im Verhältnis zu Löhnen und Renten. Die Leute lassen die Autos stehn und fahren Bus (ein Liter Benzin kostet umgerechnet 74 Cent). Wer öffentliche Aufträge kriegt, wirtschaftet in die eigene Tasche (Straßenbau), nan hat jetzt Janukowitsch gewählt, der in der Westukraine eigentlich unbeliebt ist, "aber er schafft Ordnung".
In der Westukraine hat man alle Lenindenkmäler abgehauen nach 91, in der Ostukraine stehen sie noch. Dazu passt, was Josef in Lublin erzählte: Unter den russlandergebenen Oligarchen im Osten des Landes stehn die Löhne mittlerweile 2,5 mal so hoch wie im 'orangenen' Westen, der die Korruption der angeblichen Revolutionäre voll zu spüren gekriegt hat.

Auf meine Frage, was das kleine Haus da am Wegrand beherbergt, kurzer Besuch in der Kinderbücherei. Zwei strahlende Bibliothekarinnen zeigen, was die Kinder alles gemalt und gestickt haben zum Geburtstag des Dichters Jewtschenko und an Lieblingssätzen herausgeschrieben, Anna bedauert, dass es keine Computer hier gibt, ich erzähle, dass meine Eltern Bibliothekare waren, und so strahlen wir uns an. Abends ein wunderbares Essen mit Teigrollen und Borschtsch, Andrej, der Sohn, geht mir aus dem Weg, wie es Max tun würde, Anna erzählt von den Selbstversorgern im Berg, dreimal im Jahr kaufen sie Mehl und Reis und Öl, sonst pflanzen und backen sie selbst, auch hier im kleinen Garten wird einiges angebaut, Beeren gesammelt für Tee, man kommt nur so über die Runden.

Die Kindertanzgruppe, die Anna leitet, reist in Europa herum, es ist für die Kinder ein Projekt ihres Erwachsenwerdens, zwischen Zehn und Zwanzig besuchen sie die Gruppe, erst mit dem Berufsleben scheiden sie aus. Für Anna ist es die dritte Gruppe in 30 Jahren. Und genau so existentiell ist die Pflege der huzulischen Sitten - Tradition im Sinn des Über-die-Runden-Kommens, aber auch Tor zur Welt, denn mit diesen Musiken, Tänzen, in den Trachten und den hier noch nicht ausgestorbenen Bräuchen kommt man weg, raus, in der Gruppe rund um die Welt, wird eingeladen, findet Projekte. Freunde woanders. Es ist auch ein bisschen wie Sport, es muss Gründe geben,warum solche Sitten erhalten werden, es passiert nicht aus Naturliebe oder Idealismus. Was meine Mutter traurig gemacht hat: dass die Nachfahren die schlesischen Bräuche nicht pflegten, die jungen Bayern im Urlaubsdorf nur unter Zwang oder für Geld in die Trachten zu kriegen waren - hier ist es naheliegend, gewinnbringend und deshalb auch modern. Sicher spielt auch die endlose Kette der Unterdrückung inkl. sowietischer Verpönung der religiösen Aspekte der Riten hier eine Rolle, die erst jetzt, seit knapp 20 Jahren, einen lauten Stolz auf die Wurzeln erlauben.

Stefan, der Ehemann, kommt nach dem Essen. Nach seiner Arbeit in der Musikschule trinkt er gern mit den Kollegen einen Schnaps. Ein bisschen reserviert ist er erst, bin ich auch. Bald radebrechen wir, ohne eigentlich was zu verstehen, dem Gefühl nach, wir bilden uns ein, etwas gehört zu haben, auf das wir antworten könnten. Anna lacht, sie findet es 'Katastroph', wir wir aneinander vorbei reden. Wodka hilft. Stefan spielt mir am Computer seine Kompositionen vor, die er mit Andrejs Hilfe aufnahm: Variationen von Volkstanzthemen, Eigenes für Akkordeon, Bandoneon, Klavier, manches auch Skizzen für Orchester und Chorstücke. Stefan spielt großartig Knopfakkordeon, ein russisches mit rasselnden Bässen gefällt mir besonders. Mit Roman Kumlik und Kollegen hat er ein Tanzorchester, das in Europa und Russland herumreist, für die Musikschule entwirft er Projekte, komponiert und arrangiert. "Rabot rabot rabot" sei sein Leben.
Die Bezahlung an der Schule ist auch für ukrainische Verhältnisse erbärmlich, das Touren in den 'Schengen-Raum', also auch schon nach Polen oder in das 40 km entfernte Rumänien für Ukrainer ganz mühsam geworden. Um die Visen für ihre Tanzgruppe zu einem Festival in Deutschland im Mai zu bekommen, muss Anna dreimal nach Kiev fahren und wird dort auf der deutschen Botschaft trotz vorliegender offizieller Einladungen alles andere als freundlich behandelt. Man muss sich übrigens nur mal die ins Netz gestellten Verlautbarungen des Auswärtigen Amts zur Ukraine, zu Weißrussland oder Moldavien durchlesen, um den Herrenreiterton rauszuhören, mit dem dort auf die da unten, draußen oder sonstwo herabgeschaut wird. Mit verheerenden Resultaten für den Kulturaustausch unterhalb hochdotierter Institute, also überall dort, wo begeisterte Menschen miteinander zu tun bekommen könnten (und nicht 'Stipendiaten'). Ich vermute auch in dieser ganz praktischen Arroganz des reichen Nachbarn die Handschrift von J. Fischer, der Goetheinstitute schleifen ließ, und wahrscheinlich nur, um der Altherrenriege im AA zu gefallen. Früher ging das ja auch mal ohne Kulturaustauschfirlefanz.
Von Werschowyna nach Kiev fährt man übrigens 14 Stunden, 14 wieder zurück, das dreimal. Wenn ein Beispiel gesucht wird für Enthusiasmus...

Tak tak tak, ist ein Seufzer bei den Pankivs, ja ja ja, ich höre ihn auch sonst, Ergebenheit strahlen die Alten auf dem Basar aus, die ein bisschen Obst verkaufen oder geeisten Fisch, ein Geweih, Nüsse. Zwischen ihnen gehen die Jüngeren herum, manche in Trachtenjacken und mit glitzernden Mützen, elegante langbeinige Frauen, dezent ausspuckende Männer mit Leibriemen um, die sie schlanker und gerader machen. Eigentlich ist die huzulische Art nicht Ergebenheit, die Musik, sagt Anna, ist eigentlich immer schnell, voll Verzierungen, auch die Kleidung bestickt, mit Aufsätzen bunt gemacht, kein Raum für Melancholie im öffentlichen Ausdruck. Auch in den Tänzen nicht, die ich auf Video und später in der Musikschule sehe, die Musik treibt an und die Figuren verzahnen sich fröhlich. Drängend. Die Härte, zu der die Natur zwingt (der Sommer ist extrem kurz), drängt weiter zu Optimismus.

Ich mache lange Spaziergänge. Vor drei Jahren hat es im Frühjahr schlimme Überschwemmungen gegeben, der Ceremos riss den halben Ort unter Wasser. Brücken sind notdürftig geflickt, aber die Straßen blieben, weil eh schon zerlöchert, kaputt. Mit ganz klapprigem Altfuhrpark stochern die Fahrer zwischen Rinnen und Gräben im Schritttempo daher, da kommt ein neuer blitzend getönter Mercedes mit gefühltem Tempo 100, rast durch den Ort, durch alles durch, sagt damit: scheiß auf euch, ich kann's mir leisten.
Nachts wurde es immer wieder minus 15 Grad, wir saßen bei Keksen und Schnaps, rührend legten sie im Gästehaus Holz nach und ließen es mich nichtmal versuchen. Stefan schrieb Stimmen raus für die Probe morgen. Ich dachte: Wie bei Bachs vielleicht, ein Genie weitab der Hauptstadt, das hier sein Handwerk versieht.

Ein Schaben am Fenster: Pferdefuhrwerk liefert Holzlatten an für dem Umbau des Hauses, der im Sommer geplant ist.
Am nächsten Tag eine Tanz-, dann Musikprobe. Es geht Schlag auf Schlag, eine Gruppe folgt der vorigen, Akkordeonquartett, zwei unvorbereitete Jungs, die beschimpft werden, eine kleine Hochbegabte, die immer mich im Blick hat, solange ich im Raum bleibe, dann die große Besetzung, für die gestern noch gearbeitet wurde. Acht Mädchen singen wilde Tonfolgen auf lalala (später wird diskutiert, ob vielleicht eine lyrische Variante möglich wäre), dazu Standbass, Trompete, Geige, Akkordeon. Die Chorleiterin und Stefan geben den Takt an. Die Mädchen, umso älter sie sind, desto vorsichtiger, die Jüngeren gehen voll aus sich raus. Aber keine zeigt, dass sie es albern fände, doof, hier zu stehen und zu singen, die erwachsenen Musikanten sind genauso hingegeben, es geht um die gemeinsame Sache, es sind ihre Lieder, von einem von ihnen zusammengefasst, in zwei Tagen ist Aufführung, stolz, es geht ums Machen.
Nachher mit den Musikern Schnaps, der Bassist erzählt, er war zwei Jahre in Portugal arbeiten. Als Musiker, frage ich. Lachen. Arbeit, sagt er, als Arbeitsschwein.
Viele Pläne am letzten Abend. Zum gemeinsamen Spielen sind wir gar nicht gekommen, denn der Flügel, der übrigens 'Rote Erde' heißt, war immer sofort in Beschlag. "Coda" sagte ich mal bei einer von Stefans Kompositionen, er stutzte und lachte. Als wir dann meine Platte hörten, sagte er beim letzten Stück grinsend, als endlich die Bläser einsetzen: "Coda gutt". Jetzt sagen wir, dass wir mal eine Coda zusammen machen.

Am nächsten Morgen, Anna musste früher los, wird der 44 Jahre alte Wolga angeworfen. Schafft es zum Busbahnhof und bestimmt weiter.

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