Samstag, 13. März 2010

Lemberg 2

Hier im Frühstücksraum, der aufgesetzt geschmückt, aber von eher misslaunigem Personal bevölkert und heute fast völlig leer ist, während gestern Reisegruppen aus Amerika und reiche Paare aus Russland sich bei den leckeren Rauchwürsten und an klapprigen Kaffeemaschinen drängelten, läuft die ganze Zeit eine Jammerpopmusik von jungen Frauen, die sich irgendwie alleingelassen fühlen. Unerträglich - halt: Während ich das tippe, rauscht eine Harfe, und 'Dance me to The End of Love' setzt ein. Es passt gut in die Stadt.
Cohens Art ähnelt auch diesem eigentlich hässlichen, plüschig reichen Hotel mit den vielen angenehmen Kleinigkeiten. Genau hier würde er absteigen, nachdem das George Hotel direkt im Zentrum renoviert werden muss.

Hier gib es O-Busse, die ich aus meiner Kindheit kenne. Manchmal schleichen sie im Schritttempo, die Kälte setzt ihnen zu. Eben hat ein O-Busfahrer die rausgerutschten Kontaktbügel mit einer Art Lasso wieder eingesetzt, das passierte manchmal in der Kurve in Alt-Marienfelde, als ich mit dem 32er zum Schwimmunterricht fuhr.

Es fängt an zu schneien. Ich suche ein Büro, wo man angeblich Busfahrscheine im Voraus kaufen kann, erfolglos. Heute nervt einiges, z.B. Verkehrslärm, Leute, die meine sorgsam rausgesuchten Worte nicht verstehen oder dass meine Zimmerkarte im Lift auf rot geht, obwohl ich nachgebucht habe. Wann ich denn zu zahlen gedenke? Wenn ich auschecke, wie überall sonst auf der Welt. "Sorry, but you are in Ukraine, you can buy the tickets only at the Bus Station, not in center", sagt eine junge Frau, ich halte es erst für einen Angriff auf den Touristen, aber dann merke ich, dass sie eher von ihrem Land genervt ist. Wir lächeln.

Ich suche und finde das Pinzel-Museum.
Es ist in einer römisch-orthodoxen Kirche untergebracht. Am Eingang sitzen eine Kartenfrau und ein Wachmann in zwei Einzelkabinen. Man kauft bei der Frau die Karte, zeigt sie dem Wachmann und tritt zwischen beiden hindurch.
Es gibt im dunklen Kirchenschiff ein paar Erläuterungen in Englisch, darüber hinaus ist man eigenem Eindruck oder Wissen überlassen. Es bleibt unbekannt, woher Johann Georg Pinzel stammt, in die dokumentarische Wirklichkeit trat er mit seiner Heirat. Das war in Lemberg um 1750 (genaues Jahr später eintragen, nicht mitgeschrieben).
Die ausgestellten Plastiken sind weitgehend Torsen, irgendwas fehlt immer, und hingewiesen wird auf Bauten, die er ausgestaltet hat zusammen mit einem Architekten, es gab auch Prozesse deswegen, die Konkurrenz sprach von Korruption bei der Auftragserteilung.
Jedenfalls sind es hochpathetische Stein - und Holzleiber, die hier ausgestellt sind. Meist Männer, man sieht das Muskelwerk und die Eingeweide übertrieben heftig durch die Haut schimmern. Das Sezierwissen der Renaissance ist in die Gebrauchskunst voll eingegangen. Die Spielfreude bei den Details schafft einen Übergang zu den Horrorgestalten, die ein Jahrhundert später modern werden: Hundeartige Fußzehen, filigran lange Fingernägel. Eine Frau ist vollkommen unmuskulös, hautumspannter Matsch, eine andere unglaublich theatralisch in einen Mantel gehüllt, der sich bauscht, als würde er damit eine schwierige, lange geübte und vor geheimer Bedeutung berstende Mitteilung machen wollen. Was wie ganz zufällig wirken soll, erscheint am künstlichsten. Vielleicht war's dem Künstler sogar bewusst und er bebildert die religiöse Behauptung: Es gibt keinen Zufall?
Die meisten dieser Figuren haben die Tendenz, zu feingeflochtenen Stricken zu werden. Angeblich hat jeder Fingerzeig dabei etwas zu bedeuten, eine Machart, die Pinzel von den Byzanthinern übernommen haben soll.
Ich finde, dass gerade die zerstörten Exponate zeitgemäß sind: Ein Kinderengel-Torso, dem ein Füsschen und ein Händchen fehlt, gibt ein gutes Landminen-Mahnmal ab.
Während ich Notizen tippe, stellt sich übrigens der Wachmann manchmal neben mich, weil er glaubt, das wäre eigentlich doch ein Fotoapparat und im unbewachten Augenblick würde ich das Verbotene tun und er wäre dann da, um es zu verhindern.
Pinzel wird als Meister der Psyche seiner Figuren angesehen, die sich vor allem in der Draperie ausdrücke. Seine Schüler seien dann noch theatralischer geworden und äußerlicher. (Sagt man immer gern, wenn man etwas zum Mittelpunkt macht - wenn ein Nachfolger dieser Mittelpunkt wäre, hieße Pinzels Meisterschaft 'ein erster Versuch', den dann xy vollkommen gemacht hat. Es gibt nur ganz wenig Gegenden, wo man mir sowas nicht einreden kann.) Das Foto einer 'Virgin' von Pinzel an einer Kanzel jedenfalls, halbkniend mit Flügelarmen und nackten Beinen sieht ausgesprochen phantastisch, gewagt und attraktiv aus. Frage mich, ob die entsprechende Kirche vielleicht deshalb zerstört worden ist.
Und enttäusche die Kartenfrau beim Weggehen, die vermutet hatte, jemand, der so lange bleibt, kauft dann auch den umfangreichen, für meine Verhältniss nicht teuren Bildband. Er ist mir aber zu schwer.

Ich werde auch enttäuscht: Der Trottel, der sich nicht ausdrücken kann, sagt zwar Tee, aber es gibt acht Sorten, und die, auf die er zeigt, ist irgendwie grad nicht da, da muss die Frau auf ihn einreden, ihre Kollegin kichert, jetzt zeigt er auf eine andere Sorte: auch grad nicht da, na sowas, setzen wir das Spiel doch durch alle Teessorten fort...
Das in einem Altstadtcafé, Hinterhof und geradezu romantisch verlebt eingerichtet, die Tapeten beklebt mit alten deutschsprachigen Zeitungsresten, Jahrhundertwende, eine schöne Idee, aber die Atmo so, dass der Fremde bald geht.
Das Gebäck allerdings hervorragend, Blätterteig-Rosine warm, und Tee kam dann einfach, als ich deutlich machte, die Einzelheiten wären mir wurscht.

Es ist ein bisschen wie in Breslau 1992 hier, damals galt dort der Vergangenheits-Tourismus noch als fragwürdig, unmodern, ein paar Jahre später wurde das Wurzelsuchen und Stöbern in den versteckten deutschen Spuren fast eine Mode , vielleicht mehr noch für junge Polen als für die Heimweh-Reisenden samt Enkel. Könnte hier auch so passieren, stärker noch, denn die versteckten Zeichen beziehen sich auf größere europäische Traditionen, Lemberg/Lwow/Lviv wäre ein Riesen-Puzzle der Kulturgeschichte. Erster Schritt, das Spiel anzufangen, müssten Wegweiser, Stadtführer, Gesprächseinleitungen in 'unseren' Sprachen sein, also auch mit lateinischen Buchstaben. Was kann man hier alles entdecken und suchen (danke für Gumperz' Hinweis auf die Mathematiker)? 'Unsere' Schrift wäre dazu dann erstmal Mode, bei den w-lan-Cafés fängt es jetzt schon an. Dann würde das eine Weile übertrieben werden und absurde Auswüchse haben, aber vielleicht schon die übernächste Oberschüler-Generation in der Westukraine würde sich wieder aufs Kyrillische und den asiatischen Einfluss zur Zeit der Sovietunion zurückberufen. Denn auch da kann das Wurzelsuchspiel getrieben werden, Kultureinflüsse von Weitost machen die Lebenshaltung dieser Stadt jetzt mit aus. Ob es einem passt oder nicht: Lviv wird nicht so amerikanisch sein wie Prag. Jedenfalls in meinem Planspiel.

Abends in die Oper. Der Jahrhundertwende-Bau eine Augenweide an Verzierungen, Wölbungen, Schwung-Dekors, Brüstungen, drei Stockwerke Balkone, in einem Zustand angenehmer Gepflegtheit alles, aber eben alt und nicht (wie bei uns oft üblich) in modern auftrumpfender Altertümlichkeit gehalten. Toll die Musiker in ihrem Graben vorher, spielten beim Einstimmen verschiedene gediegene Kurzwerke in Zwölftonart. Weniger mitreißend eine Direktorin, die eine Vorrede hielt, dazu ein Laufband über der Bühne mit der mehrsprachigen Bitte um Handyverzicht. Später lief das Laufband weiter mit ukrainischer Übersetzung der Texte (wenn's nicht doch Werbung war).
Carmina Burana, Balett und Chor, der leider wegen der Tänzer hinten aufgestellt und mir zu leise war. Manchmal Temposchwankungen wegen der weiten Wege, fast jedesmal nach einem Lied der Versuch, Beifall zu geben, der vom weiter treibenden Dirigenten vereitelt und einem Teil des Publikums durch leises Zischen verurteilt wurde. Aber immer wieder neu aufkam. Eine furchtbar gefallsüchtige Musik, ich kenne sie, seit ich 14 bin, jetzt ertrage ich diese Tänze und Chöre nur noch, wenn von Dark Wave Gruppen brachialisiert, denn brutal sind sie, brutal einfach, Pseudo-Volk, in einem so festlichen zweideutigen Rahmen wie diesem Provinz-Opernhaus entlassen sie allen unfreiwilligen Ekel des faschistisch affizierten Bürgertums: das Lateinische für den Studienrat, das Amouröse für den Chirurgen nebst Gattin, das Sülzige für das Hausmädchen, Pseudoinnigkeit für clevere Seelchen wie Luise Rinser, das Stampfende für den Korpsstudenten nebst Konkubine im annektierten Ausland - es mündet alles in Unterwerfung und Schicksalslob. Besatzungsoffizier Orff hat das zuwege gebracht (der sich im wirklichen Leben nicht zu blöde war, einen Ersatz-Sommernachtstraum statt der verbotenen Mendelssohn-Musik für die Nazis zu schreiben, sogar Richard Strauss hatte abgelehnt). Es gefällt, von Anfang an. Charles Ives, den ich vorgestern nacht noch im Hotel gehört habe, gefiel anfangs gar nicht, obwohl die gleiche Idee: Alte Texte, Chorgesang und Orchester, Voksweisen einkomponiert. Viel zu frei zum Gefallen ist das, man muss die Ohren dazu schräg halten, entscheiden, auf was man achten will beim Zuhören. Dazu lässt es Unteroffizier Orff gar nicht kommen. Wer nicht zuhört, kriegt erstmal eine geknallt. Scheint so, als mögen das 'ne Menge Menschen bis heute.
Aber der Schlussbeifall gilt den Mitwirkenden. Man winkt sich zu oder trinkt noch ein Glas im 1. Stock. Und später eins im Brachial-Kellerladen 'Archivo', mit orff-erledigenden Märschen im Zeitraffer, dazu ein Fussballspiel aus dem TV, kein Dezibel mehr für Gespräche, aber das schnellste offene w-lan der Stadt.

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