Dienstag, 2. März 2010

Warschau

Im eisigen Wind auf dem Turm des Kulturpalasts. Den sah ich gestern zuerst, als ich aus dem Tunnel des Hauptbahnhofs kam, es war fast dunkel: ein paar üblich moderne Hochhäuser und mittendrin, sehr für sich, als hätten sich die Kollegen alle nicht so recht an ihn rangewagt, der Zuckerbäckerriese aus der Stalinzeit.
Ein Monstrum von Hochhaus, es heißt, Stalin hätte eine Delegation auf heimliche Reise nach New York geschickt, um dort Stil und Statik des Empire State Building zu studieren, ehe sie sich an den Bau wagten, der dann wohl, wenn Warschau gut gehen würde, auch in Moskau hätte probiert werden sollen.
Vorher starb der Auftraggeber, und mit dem nach ihm benannten Magistralenstil (der aber wirklich auch in New York, im faschistischen Rom und etwas verkümmert in den Verwaltungsbauten am Berliner Fehrbelliner Platz zu finden ist), war es zuende. In Polen war der Riesenturm samt auf antik machenden Flachbauten für Theater, Konferenzen, Feiern nie gemocht worden: die Sowiets hatten der Bombardierung der Stadt vom andern Weichselufer aus seelenruhig zugesehen, jetzt bebauten sie eine leere Fläche als Stempel ihrer Vorherrschaft. Pläne, den palaci kulturij abzureißen, sind heute glücklicherweise vom Tisch. Vielleicht findet eine nächste Generation ihn sogar wieder schick: Wo gibt's sowas sonst?
Warschau von oben ähnelt eher Frankfurt als Berlin. Richtige Wolkenkratzer, Wirtschaftsklötze, Hoteltürme, dazwischen ein Gemisch aus schäbigem Sozialbau, Glasfassaden und bürgerlicher Repräsentation. Wobei alles Alte nach dem Krieg neu gebaut werden musste - unfassbar, mit welcher Gründlichkeit hier unsere deutschen Vorfahren zerstört haben, in zwei Wellen offenbar, 1939 und 44/45, es steht an fast jedem Gebäude.
Dass ich wusste, dass die mittelalterliche Altstadt originaltreu rekonstruiert wurde, hat mir die Freude am Durchstreifen genommen. Dazu kam, dass an diesem kalten Tag eigentlich nur auf Touristen wartende Händler, Kneipiers, Bettler sich dort zu tun machten. Es gibt auch Büros, Galerien, Clubs in der Altstadt, aber niemand sonst war zu sehen, mir kam es vor wie zugige Kulisse. Sicher spürt man gerade durch den Nachbau die Zerstörung noch schmerzhafter.
Wieviel lebhafter, städtischer und nur ein paar Ecken weiter das Universitäts- und Verwaltungsviertel. Klassizistische Bauten (auch sie rekonstruiert), überall schwungvoller Alltag, das Pfeifen der alten überfüllten Straßenbahnen, Cafés für jede mögliche Pause, Blumen- und Losverkäufer, im Strom der Studies in die Parkanlagen, in denen die Fakultätsgebäude untergebracht sind wie in Dahlem, aber eben mittendrin im Zentrum.
In Warschau scheinen geschätzt 70 Prozent Frauen zu studieren. Eine kam grad strahlend aus dem bewachten Gebäude des Dekans, da war wohl etwas sehr gut gelaufen. Dann auf Suche nach einem gepriesenen 'Aufbaumuseum' über Warschaus Geschichte, es hat leider gerade am Dienstag zu, gegenüber ist ein Tauchmuseum, wo ich frage, das deshalb, weil das wohl viele tun, gerade dienstags immer auf hat, aber sie verstehen, dass ich trotzdem nicht bleibe, ich setze mich einfach in einen Bus, der dann wie zufällig am weit entfernten Hotel vorbeikommt.
Vielleicht seh ich jemand ähnlich, manchmal lachen mich Menschen sehr freundlich an, zweimal fragte mich jemand was, ich konnte ja nicht klar antworten. Ich glaube, mir gefällt die Stadt.

Fahrt nach Warschau

Dreckwetter, Schneematschtreiben, Resteverwertung des westeuropäischen Orkans. Der Zug startet mit Heizungsproblemen, vom vordersten Waggon gewechselt, wird es im zweiten auch bald kalt. Halte mich mit Mahlers Rückertliedern wach, was ich vor 30 Jahren schön fand, ist jetzt konisch, was damals unwichtig war, begeistert. Auch das erste der Kindertotenlieder, in allem Düsteren noch viel durchlässiger als das Wetter hier draußen, nur das Lokomotivheulen gerade auf dem Bahnhof Slavko war wie reinkomponiert.
Es hat dann also doch einen Abschied gegeben.
Ostseeküste bei Gdynia, Gdansk so unglaublich hässslich vom Zug aus, so hässssslich. Und es wird nicht besser. Nur das Abteil immer voller, 1 volle Stunde Stopp an einer Baustelle, dann wieder Schritttempo, dreckiger Niesel auf Schneereste, schwarze Schneereste, Betonhäuschen, Müllhaufen, davor angekettete Hunde.
TTRH über Fruits, gerade läuft eine amerikanische Big Band-Fassung von 'Ausgerechnet Bananen' (bzw. vielleicht die Originalvorlage für diesen Schlager), danach Harry Belafonte: Bananaboat.
Wenn doch nur die Heizung hier ein bisschen der karibischen Stimmung in meinen Ohren gerecht würde.
Wieviel Verspätung werden wir haben? Meine Vorfreude auf Warschau ist gesunken auf Null.
Strange Fruit ist ein in Töne gesetztes Gedicht, geschrieben von einem radikalen schwarzen Lehrer aus der Bronx, der nebenbei die Kinder von Ethel und Julius Rosenberg adoptierte, als die Eltern hingerichtet wurden. Seinen Namen hat uns der Moderator so hingenuschelt, dass ich ihn später mal nachlesen muß. Jedenfalls singts Billie Holiday, sie musste die Plattenfirma dafür wechseln.
Was für ein grauer Tag in einem grauen Vorläufig-Land, so siehts hier aus, alles mal eben so hingereicht, abgestellt.
Wundere mich, warum es von Dylans Sendungen nicht schon längst Skripte gibt, sie kritzeln doch sonst jede Kleinigkeit im Netz mit. Ich höre jetzt schon die dritte, der Zug steht wieder.
Jetzt machen sie das Licht an, richten sich auf eine lange Nacht ein, scheints.
Ich sitz in diesem Zug und bin so scheiße drauf,
Dein Billigschuh tut meinen Füssen weh,
dein Vorhang fällt, sodass ich gar nichts seh,
ich sitz in diesem Zug und bin so scheiße drauf,
Ich glaub, die Fahrt hört überhaupt nicht auf.
Er schleicht an jede Kreuzung, Schranken gibt es nicht,
(3x wiederholt wie bei W. Guthrie)
warum ich hier bin, weiß ich wirklich nicht.
Erstaunlich die resignierte Geduld aller andern hier im Zug, der jetzt schon wieder zehn Minuten steht, wohl weil es eingleisig wird und der Gegenzug noch nicht da ist. Keine Ansagen, keine Info durch das Begleitpersonal. Verspätungszeit 1 Stunde 10, bei uns wäre jetzt hektisches Gebrüll ausgebrochen. Hier hockt und seufzt jeder vor sich hin. Immer noch Spätwirkungen der Diktatur oder Abgeklärtheit? Ob mir das sympatisch ist, weiß ich nicht, es gibt zu denken. Und die Schaffner laufen arrogant und unansprechbar durch die Gänge, als hätten sie nichts damit zu tun. Vorhin auf die Frage eines jungen Mannes ganz abweisend: Schicksalsordner. Würde mich rasend machen.
Ich will jetzt da sein!

Ich bin da. Der mächtige Kulturpalast war das erste, was ich sah. Es fing vielversprechend an, aber ich bin müde.

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