An der Schwimmstelle ist heute ein Boot angelandet. Drei Erwachsene, zwei Kinder. Ich gehe langsamer, als ich das sehe, dann zwing ich mich zu einem forscheren Schritt.
„Tach“, ruf ich und lass den Rucksack fallen.
„Tach“, knurrt der eine der biertrinkenden Männer. Der andere guckt durch mich durch.
Ich zieh mich um.
„Lasst den Mann mal durch“, sagt die sonnenbadende Frau zu den Kindern, die ganz woanders planschen, und meint ihre Männer.
Der durch mich durchgeschaut hat, macht ein klein bisschen Platz.
„Immer noch ziemlich frisch“, sag ich, einen Fuss im Wasser.
„Geht aber“, antwortet der Gesprächigere.
Ich zwinge mich, gleich tief einzutauchen. Die beiden Kinder kreischen.
„Ging aber schnell“, sagt der Durchgucker zu dem andern, er hat eine eher hohe Stimme. Ich mache ordentlich Schaum und Wellen beim Schwimmen.
Als ich zehn Minuten später zurückkomme, hat eine Gruppe von zwei dicken Frauen mit fünf weiteren Kindern alles am Ufer in Beschlag genommen, und die Leute vom Boot sind hastig dabei, ihre Abfahrt vorzubereiten. Sie grüßen mich wie einen guten Bekannten.
Etwas schwankend stoßen sie dann vom Ufer ab, der Durchgucker kommt nur mit Hilfe der Frau in das Boot.
„Die sollten jetzt nicht mehr quer übers Wasser“, sagt eine der beiden neuen Dicken.
Einen Moment glaube ich, dass sie ihre Kinder zurückgelassen haben. Aber dann kreischen die vom Bug des Boots zu uns rüber.
„Doch“, sag ich, „quer übers Wasser. Muss schön sein. Und immer im Takt!“
quer - 7. Jun, 16:26
Bei Welt-Online gab es neulich eine schmale Glosse von einem Gießener Jungakademiker mit Kurzzeitjobs, zwischendurch arbeitslos, der sich mokiert, wie großzügig ihm der „Wohlfahrtsstaat“ dann jedesmal weiterhilft: „Schöner leben mit Hartz IV“ - und dann wundere man sich, dass niemand mehr hart arbeiten wolle. Als hätten wir es zehn Jahre früher, vor Schröder, 1998, so hinter der Zeit her, so schale Witzchen eines Elite-Aspiranten. Welt-Online eben.
Nur ein paar Beamte und Börsenmakler denken heute noch so, murmele ich, während ich dem Namen des Glossisten müde nachgoogele. Natürlich Treffer. Edgar Dahl, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum der Dermatologie und Andrologie der Justus-Liebig-Universität Giessen ist „im Moment (...) als Visiting Fellow am Centre for Applied Philosophy and Public Ethics der University of Melbourne tätig“ - also typischerweise gut abgesichert. Er disputiert auch wissenschaftlich gerne mal, unter anderem verfasste er eine Abwägung zu dem Thema, ob Eltern, vorausgesetzt, dies sei technisch machbar, mit genetischem Eingriff die sexuelle Neigung ihrer Kinder vorherbestimmen dürfen sollten (Human Reproduction, Vol.18, No.7).
Ohne über den persönlichen Nährboden zu spekulieren, der eine solche Frage überhaupt erst aufkommen lässt, und eh ich wieder belehrt werde, dass man die Fachleute gefälligst machen zu lassen habe: Ich wünsche Dr.Dahl von Herzen solch genmanipulierten Nachwuchs, und dass der früh genug davon erfährt!
quer - 7. Jun, 16:23
„Aber“, sagt die junge tschetschenische Autorin bei der PEN-Tagung in Speyer, nachdem sie von den Versuchen, sie am Beobachten, Berichten, das Unrecht Festhalten zu hindern, ihr die wirtschaftliche Basis, die Bewegungsfreiheit, ihren Mut und die Unvoreingenommenheit zu nehmen, ihr die eigene Sprache zu verbieten, die Heimat zur Fremde, zur verbotenen Zone zu machen, ihr ihre Äußerungen in den Mund zurückzustopfen, ihre Kultur in Frage zu stellen, die Identität ihres Volkes, das Streben nach Unabhängigkeit unter eigenen kulturellen und sozialen Regeln, sehr klar und nachvollziehbar berichtet hat, und dass sie für diesen Einsatz dann erwartungsgemäß ins Gefängnis kam und selbst dort nicht aufhören konnte zu schreiben - wie sie denn überhaupt an das Schreiben und vorher Studieren gekommen sei, fragt die ihr sehr gewogene deutsche Gesprächspartnerin dazwischen, als Frau in Tschetschenien, da sei sie doch strengen patriarchalen Gesetzen unterworfen -
„aber“, antwortet sie da, „wir haben doch 70 Jahre lang Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Sowjetunion -“
quer - 7. Jun, 16:21
24.5. Leipzig, zu Bob Dylans Geburtstag, eine Session mit Francis D.D. String und Sascha Gutzeit. War schön chaotisch - 2 Stunden Probe im Garten am Fluss, dann 2 Stunden Konzert - zu 3t für uns alle fast ausnahmslos neues Material, wir haben eine ziemlich ungewöhnliche Setlist zusammengestellt und die ganz langen Riemen weggelassen, weil der Laden, das Flowerpower, ein junges und eher hibbliges Publikum anzieht. War gut voll, als wir anfingen, wurde noch immer enger. Und das spielten wir:
Heut nacht (Tonight I'll be Staying Here With You)
Seven Days
Hochwasser (High Water)
TV Talking Blues
Der Weg ist lang (Coming from the Heart)
New Pony
Schlupfloch vor dem Sturm (Shelter From the Storm)
Just Like Tom Thumbs Blues ((als Bossa))
Noch ne Nacht (One More Night)
Where Teardrops Fall
Ugliest Girl in the World
Emotionally Yours
Ewiger Kreislauf (Eternal Circle)
Things Have Changed
Kotz dich aus (Get Your Rocks Off)
Rainy Day Women
Death is Not the End
Viel Blues, viel Impro, natürlich auch mal Leerlauf, denn wir hatten ja nix geplant, und da greift man schon mal gern auf vorhandene Floskeln zurück. Gegen Ende extatischer. Es gab ein bisschen Gemosere vom Publikum, weil wir nichts von uns selbst spielten und keine Dylan-Hits, aber die meisten mochten es. Mich nervten nur die Keyboards, ich will einen Flügel!
Anschließend brach eine Horde Junggesellen-besinnungslos-Suffkis in das Flowerpower ein, gut, dass wir kräftige Freunde hatten, ein schneller Abgang war geboten. So viel Gesülz und Geballere auf einmal und ohne Vorwarnung hab ich selten erlebt. Plötzliche Dumpf-Aggression und eine Strip- Einlage, wo es eben noch so leicht und inspiriert schwang, der gleiche Boden, die gleichen Wände...
Leipzig jedesmal eine schöne Stadt trotzdem.
quer - 7. Jun, 16:20
Jeder hat seine Wahrheit, sagt man gern. Aber die Wahrheit, die Exaussenminister Fischer sein eigen nennt, der im gleichen März/April 1999 eine Einschätzung seines Ministeriums in einem Abschiebeprozess verantwortete, im Kosovo seien albanische Volksangehörige „keiner regionalen oder landesweiten Gruppenverfolgung ausgesetzt“, und sich vor den Bundestag stellte, um die Vertreibung und Vernichtung der Albaner durch Serben im Kosovo mit dem Genozid an den Juden zu vergleichen und damit um Zustimmung für seine Bombardierung Serbiens zu werben - ich fürchte, sie taugt überhaupt nichts. Was ist schon Wahrheit? Die Karriere ist gemacht, die Legende ist gestrickt, nach den Toten kräht kein Hahn. Der Kosovo ein unabhängiger Staat neuerdings, regiert von Leuten, die mit dem Organhandel ihrer frisch getöteten serbischen Gegner die nächsten Waffenkäufe finanzierten. Das erfährt man von Carla del Ponte, bisher Chefanklägerin des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, die ihr Buch mit diesem Detail ausdrücklich erst veröffentlichen wollte, sobald der Kosovo mit der ihn (ich nenn es mal so) befreienden UCK es in die Selbständigkeit geschafft hat. ‚Unsere‘ Armee regelt dort das Nötigste, und grad heut im Deutschlandfunk in einer Reportage über eine junge Soldatin in Pristina nannte der Sprecher die abgebrannten Häuser in der Altstadt als „von ehemals dort ansässigen Serben verlassen“.
Verlassen, wie das Kaufhaus Wertheim im Faschismus von seinen Besitzern 'verlassen' wurde.
Zu diesem grausligen Thema eine Lektüreempfehlung: Kurt Köpruner, Reisen in das Land der Kriege, Diederichs 2003. Die Recherchen des privat und beruflich mit Ex-Jugoslawien verbandelten Vorarlberger Geschäftsmanns über die Eskalation des Gewalt-Irrsinns seit 1990, dem er mit den Riesenaugen eines erschreckt-neugierigen Kindes entgegen - und nachsah, haben Sogwirkung. Achtung: Verschwörungstheoriegefahr - was ja nichts andres heißt als Fakten und Erlebnisse statt der Weismachungen aus FAZ, taz und gleichgeschaltetem Bekanntenkreis.
quer - 7. Jun, 16:18
Unter dem Vordach, zu fünft mit zwei Hunden, ein großes Frühstück, wir haben geprobt gestern in dem Zimmer zur Straße raus, manchmal sind Leute kurz stehengeblieben, waren dann in Polen essen, trinken anschließend, wollen jetzt nochmal alles kurz anspielen - „Ist das die Truppe“, fragt ein Nachbar, der vorbeischaut. Ja. Wird nur den einen Auftritt geben heut Abend im Grünen Salon, aber es klingt wie der Anfang zu einer weiten Tournee.
quer - 7. Jun, 16:16
Pfingstlager der Linkspartei am Werbellin-See und Pfingstfestival der evangelischen Jugend in Dresden. Zweimal fröhliche Massen unter dem strahlend blauen Himmel, an den wir uns in diesen Maitagen schon so gewöhnt haben, dass er wie selbstverständlich über uns liegt, und ich denke zweimal am Tag: Freue dich!
Das könnte auch das Motto für beide Veranstaltungen gewesen sein - einmal in formvollendeter Lässigkeit am märkischen See und einmal in demonstrativer Nüchternheit in der sächsischen Kulturhauptstadt. Im Sport - und Freizeitgelände hat das Bierchen frühmorgens den gleichen Stellenwert wie das Andachtsgebet mit klarem Kopf auf der Brühl-schen Terrasse. Und so weit voneinander entfernt Jugendfunktionär der Linkspartei und Jungscharleiterin der evangelischen Jugend sich fühlen werden, die schlecht sitzenden Shorts, hastig gerauchten Zigaretten, die vorquellenden Fettpölsterchen und selbstbewusste Wurstigkeit eines: Hier-bin-ich-ich-denn-nur-hierher-gehör-ich - Selbstgefühls haben sie beide, teilen sie, auch wenn sie sich das nicht mitteilen.
Was nehme ich mit: Eine DVD mit dem grade mit 101 verstorbenen Volksschauspieler Geschoneck, oder eine mit Reden von Helmut Gollwitzer, dem Widerstandstheologen aus meiner Dahlemer Nachbarschaft? Nix davon (obwohl man vielleicht beides nirgendwo sonst so einfach bekäme).
Dafür eine neue Erfahrung im Improvisieren. Ich höre in Dresden beim Eintauchen in den ‚Bärenzwinger‘ den Leipziger Sänger Francis D.D. String mit seiner Band, sie spielen Dylan, ich muss lachen, weil er immer mindestens zwei, drei Worte pro Zeile weglässt, sich deshalb gesanglich um so mehr in Anfang und Ende reinlegen kann, die Melodien feiert mit so viel weniger Ballast („crickets are talk (unverständlich)... in the wind“ - lache begeistert und klatsche, da bittet er mich auch schon auf die Bühne, sie spielen den Anfang von ‚shelter from the storm‘, zu dem ich ja eine deutsche Fassung habe. Die ich natürlich nicht auswenig kann, deshalb will ich eigentlich sofort abwinken und mich verkriechen. Aber dann frag ich mich, wieso ich grade so fröhlich war. Ich vergegenwärtige mir die ersten Zeilen, klettere hoch und sing los, lasse weg, was mir grad nicht einfällt, steigere mich in die Fetzen - das Ende jeder Strophe ist ja sowieso klar: „Komm rein, sprach sie, ich geb dir ein Schlupfloch vor dem Sturm.“
Ich glaub, ich hab noch ein paar Leute mehr fröhlich gemacht.
quer - 7. Jun, 16:12