Mittwoch, 1. Juni 2011

29.5.

Ich hätte gezaudert, Kristjane wollte es gern, also rief ich vom Hotel aus eine Frau Tedyana Berezhna an, im Ukrainebuch als Stadtführerin für Cernivci empfohlen. Sie antwortete gleich in heiterem Deutsch und hatte erst einen Tag später, Sonntag, Zeit, also verlängerten wir unsern Aufenthalt leichten Herzens. Am Sonntag Punkt zehn Uhr fuhr sie vor mit Taxi, begrüßte uns, klein, rund, beweglich, und legte gleich los. Kurze geschichtliche Einführung samt alter Originalkarte der Bukowina in den Grenzen der habsburger Zeit. Weil wir nach Spuren der deutschen Siedler gefragt hatten, wollte sie mit uns zu einem Bushalteplatz, aber in dem Volkspark, den wir dazu durchquerten, gab es gleich neue Impulse - eine Art Prater, den die Österreicher anlegen ließen, war das nämlich, in sowietischer Zeit kostete er etwas Eintritt, aber die Spielgeräte, Buden und Lustkähne blieben, ein kleines Amphitheater hatte es gegeben, jetzt durch eine überdachte Bühne ersetzt - grad wurde umgebaut für eine Parade von Müttern mit Kinderwagen, die für 15 Uhr geplant war, Mütter mit Kindern sollten heute ausgezeichnet werden - dann da drüben ein Standbild für die Dichterin Ol’ha Kobyljanska, die ursprünglich Weber geheißen hatte, jüdische Russin, die auf ukrainisch schrieb, dann ein Denkmal für die sowietischen Soldaten, die die Stadt befreit hatten, Blumengebinde in den ukrainischen Farben, das würde vielleicht etwas seltsam wirken, die Farben des jetzt eigenständigen Landes zur Ehre von denen, die es besetzt gehalten hatten, aber das könne man eben auch anders sehen, denn die jungen Männer damals zu Kriegsende hätten ihr Leben gegeben für den Kampf gegen den Faschismus.
Wir waren unmittelbar mittendrin, im Strom der widersprüchlichen, reissenden Kräfte, in der Bewegung quer durch Zeiten, Kulturen, Machtsphären, die sich in diese Stadt, das ganze Land, eingefressen haben.
Tedyana Berezhna hat das Kapitel über Czernovitz im Reiseführer mitformuliert, mit ihr zusammen öffnet sich die Stadt so, wie es uns unwissenden Fremden allein nie gelingen könnte. Man sitzt im Bus, sie plaudert noch mit einer Mitfahrenden, die sie aus der Schule kennt, dann sagt sie: „Das war das deutsche Haus“, zeigt auf ein graues größeres Gebäude, hier ist Rosch, ein Vorort, der früher von Deutschen bewohnt war, die auch ihr Kulturhaus hatten, der Bus schraubt sich einen der acht Hügel hoch, auf denen Czernovitz gebaut ist, wir steigen bei einer Kirche aus, die deutsch-lutherisch war, jetzt einer Sekte gehört, durchqueren den ehemals deutschen Friedhof, Kristjane schnell und bildorientiert, Frau Berezhna und ich kurzatmiger, Schatten suchend, manchmal stumm, dann von Begräbnisritualen erzählend. „Wir Slawen treffen uns an den Gräbern, eine Bank steht da, wir bringen Essen und Trinken mit, und die Toten sind bei dem Picknick dabei.“
Mutter und Vater, erzählt sie, haben sich in Leningrad kennengelernt, Stadtbewohnerin und Soldat, romantische Liebe, Studium in Moskau, als Unidozent zog der Vater mit der Familie hierher, die Kinder gingen selbstverständlich in die ukrainische Schule, man lebte schließlich in diesem Teil des sozialistischen Landes (während Einheimische, wie sie erzählt, ihre Kinder oft in die russische Schule schickten), die Maßgabe war, die verschiedenen Nationalitäten zu achten, aber die eigene nicht höher zu stellen als alle andern - was sich später, nach 1989, umgekehrt hat, sodass ihr Sohn in der Pubertät den Eltern vorwarf, warum sie zuhaus nicht ukrainisch sprächen. In der Grundschule hatte er aus einem Buch gelernt, das ,Ich bin ein ukrainisches Kind‘ hieß, in Kanada gedruckt worden war, von ukrainischen Auswanderern finanziert und mit Vokabeln drin, die aus dem Alltagswortschatz längst verschwunden waren - geschrieben in der Sprache der Auswanderer von vor hundert Jahren.
Wir verlängerten die Zeit und hätten bestimmt den ganzen Tag immer mehr in jeder Richtung über die Stadt, Politik, Lebenshaltungen,Verwirrungen und Enttäuschungen lernen, erfahren und streiten können. Hoffnung auf Touristen: „Haben Sie welche gesehen hier?, na, also...“ - Wohnungsbau: Von bäuerlich-genormt über großzügig-habsburgisch bis zu modernistisch-quadratisch, wie die Rumänen bauten, denen die Stadt zwischen den Weltkriegen gehörte. Dann, nach dem Krieg fanden die Sowietsoldaten hier alles leer, die jüdische Bevölkerung fast vernichtet, die Deutschen (durch den Hitler/Stalin-Pakt) vertrieben, Wohnungen voll mit Geräten, Möbeln und Klamotten zurückgelassen - man konnte einfach einziehen und weitermachen. Das übernahmen die Umgesiedelten, Russen, Armenier, Kirgisen und viele andere Sowietbürger, Czernovitz war sofort wieder eine multikulturelle Stadt, aber eben ohne Bezug zu der unmittelbaren und ferneren Vergangenheit. Eine Geschichtssekunde lang leerer Tisch. Seltsame, einmalige Konstellation. Dann die gut eingerichteten Wohnungen aus der Stalin-Zeit für die Nomenklatura, nur die sollte moderner leben als alle andern, im Innenhof immer ein kleiner Bunker zum Schutz vor Bomben. In der Chrustschow-Zeit dann die weitflächigen, hochaufschießenden Sozialbauten für alle, Vorgänger der Plattensiedlungen; diese kleinen, „gemütlichen“ Wohnungen sollten nicht lange halten müssen, „denn Chrustschow glaubte wirklich daran, dass in 25 Jahren der Kommunismus kommt. Dann würde alles allen gehören, und jeder hätte die Wohnung, die ihm gefällt.“ Wie?? „Er glaubte daran. Er war ein charismatischer Mensch.“
Frau Berezhna drang dann darauf, dass wir Kaffee trinken gehen, es stellte sich raus, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte - gestern aus Wien zurück, wo sie Sponsoren einer Anti-Drogen-Gesellschaft, der sie vorsteht, besuchte, abends noch in einem Theaterstück anlässlich des 110.Geburtstags von Rose Ausländer (das wir auch hatten besuchen wollen, zu müde dann, lieber essen gegangen) - jetzt saßen wir in der Herrengasse, probierten verschiedene Stückchen Süßwerk, sprachen über die Herstellung positiver Gedanken zur Überwindung von Depression und die Heilkraft der Schwarzen Madonna von Czernovitz. Selbst ihr skeptischer jüdischer Geschäftsfreund habe nach einem Gebet vor dem Antlitz dieser Madonna die Schmerzen in seinem Tennisarm verloren - „er glaubt trotzdem nicht dran“, sagt Frau Berezhna lachend, und ich bin mir nicht sicher, was ihr besser gefällt, diese Skepsis oder die Macht der Ikone.
Wir verabschieden uns, viele Fragen zurückhaltend. Was würde sie zu der Hungerkatastrophe in der Ukraine der 30ger Jahre sagen, die manche einen gezielten Völkermord durch Stalin nennen? Was zur orangenen Bewegung der Neunziger?
Wie lebte es sich in der Stadt, als Rumänien sie verwaltete? Als es noch die über 100 Zeitungen hier gab? Als über die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war?
Hellwache, anregende vier Stunden.

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